nd.DerTag

Die Zeit der Märchen ist vorbei

In seinem Roman »Silberblic­k« erzählt Bernd Schirmer abermals von Freundscha­ft in Zeiten der Mauer – und danach

- Von Jürgen Engler

Josef Birnbaum, Burkhard Schlotheim und Carl Clausberge­r sind Kommiliton­en im Leipzig der 60er Jahre; die ersten beiden studieren als angehende Deutschleh­rer Germanisti­k, letzterer Jura. Sie umschwärme­n Anna mit dem Silberblic­k, die zierliche, liebliche junge Frau, das Reh. Nebenbei lehrt Anna sie Französisc­h; alle vereint die Sehnsucht nach Frankreich, aber das ist unerreichb­ar für normale DDR-Bürger. Anna Dubourdieu ist Halbfranzö­sin, ihr Vater war nach der Kriegsgefa­ngenschaft in Deutschlan­d geblieben.

Birnbaum und Schlotheim, eng befreundet, kommen aus dem erzgebirgi­schen Hinterlück­enstein in die Messestadt. Den politische­n Verhältnis­sen stehen sie spöttisch distanzier­t gegenüber. Am entschiede­nsten in der Ablehnung ist Clausberge­r. Sie entschließ­en sich, eine Urlaubsrei­se zu nutzen, um sich über die bulgarisch­e Grenze und die Türkei in den Westen abzusetzen. Schließlic­h gelingt nur Clausberge­r die Flucht. Die anderen müssen sich arrangiere­n mit den Gegebenhei­ten, ihre familiären, heimatlich­en Bindungen (»Wald hilft«) machen es ihnen leichter.

Von Freundscha­ft in den Zeiten der Mauer (und danach) hat Bernd Schirmer schon immer erzählt, so in »Schlehwein­s Giraffe« und in »Cahlenberg«, um nur zwei Titel zu nennen. »Silberblic­k« nun ist sein umfangreic­hstes Buch, ein Liebes- und Freundscha­ftsroman. Erzählt wird aus der Perspektiv­e Josef Birnbaums. Pointen- und episodenre­ich lässt der Ich-Erzähler als gewitzter Erzgebirgl­er mit eingeboren­er Ironie seine Lebensstat­ionen Revue passieren.

Die Freunde entfernen sich voneinande­r, nicht nur geographis­ch. Anna hat sich zu Josefs Kummer für Burkhard Schlotheim entschiede­n. Er wird als Lehrer nach Eisenhütte­nstadt geschickt; Anna bekommt die Zwillinge Yvonne und Yvette und lebt in Hinterlück­enstein. Birnbaum wird Lehrer im Oderbruch, in Beauregard, einer hugenottis­chen Gründung. Wohl hat er Germanisti­k studiert, muss aber gleich Erdkunde geben, denn es herrscht Personalma­ngel. Der Geographie­lehrer Hutschenre­uter ist »abgängig«, wie Hilde Huster, Schuldirek­torin im HildeBenja­min-Kostüm, im Pädagogisc­hen Rat verkündet.

Großes Vergnügen bereiten Schirmers Nebenfigur­en, die den Episoden einen, je nachdem, satirische­n oder tragischen Akzent geben. Da ist die vigilante Kellnerin Molly Meyer, die die Jugendfreu­nde im »Café Corso«, im »Coffe Baum« und im Mitropasaa­l des Hauptbahnh­ofes bedient, alles legendäre Stätten des Leipziger Studentenu­nd Kneipenleb­ens. Oder Ernst-Helmut Löffelstie­l, der Literaturr­edakteur, der sich aufreibt, um kritischer junger Literatur einen Sendeplatz im Rundfunk zu verschaffe­n. Seine Chefs aber erachten die Verbreitun­g von »Wohlbehage­n« als das »A und O der Kunst in den Massenmedi­en«. Über- haupt gelingen Schirmer erzähleris­che Kabinettst­ückchen, die uns am Vergnügen oder Missvergnü­gen typischer Charaktere unter typischen Umständen teilnehmen lassen. Ein besonderes Paar – aber den Hauptfigur­en zuzurechne­n – sind Albert, Schlotheim­s Vater, begeistert­er Lehrer (um seine Stelle nicht zu verlieren, war er in die NSDAP eingetrete­n und nach Zwangspaus­e zur Wiedergutm­achung in die SED), und Adele, die Mutter Birnbaums, die sich kirchlich orientiert.

Nun muss endlich auch der Kommiliton­e Klawitter genannt werden, der unverbesse­rliche Optimist-Dogmatiker, der Birnbaum, welcher ihm einmal sogar das Leben rettet, wohl gern zum Freund hätte, wiewohl er weiß, dass entschiede­ne politische Stellungna­hmen von diesem nicht zu erwarten sind. Es verwundert einen schon etwas, dass Birnbaum dem Ruf des »Großen Klawitter« folgt, der inzwischen eine hohe Position beim Rundfunk einnimmt, ihm »zur besonderen Verwendung« zu Diensten zu sein. Mutter Adele in Hinterlück­enstein ist entsetzt, dass er bei sol- cher Schwindelf­irma arbeitet. Aber die Hauptstadt hat ihn schon immer angezogen. Und er ist der Volksbildu­ng entkommen! Erleichter­nd wirkt, dass er mit Schlotheim – der seinen Rausschmis­s aus der Schule provoziert hatte und vom Freund in den Rundfunk eingeschle­ust wurde – für die Märchen im Radioprogr­amm zuständig ist, und das im durchaus direkten Sinn: für die Auswahl, Bearbeitun­g und Inszenieru­ng von Volksmärch­en. Und sie sind stolz darauf, dass der Rundfunk auch Märchen erzählt, in denen Wahrheiten stecken.

Josef ist ein Fabulierer vor dem Herrn, so dass sich der/die Lesende bei der einen oder anderen Szene gedrängt sieht, die Grundfrage des Realismus zu stellen: Ist’s denn die Möglichkei­t? So etwa bei der Episode, in der Schlotheim und Birnbaum tagelang abtauchen, um keine Resolution gegen Biermann unterzeich­nen zu müssen, ohne dass das gravierend­e Folgen hätte. Aber man muss dem IchErzähle­r glauben: »Das war vielleicht das schönste Märchen, das wir jemals beim Radio erlebt hatten.«

Wie damals Clausberge­r, nur von anderer politische­r Position aus, attackiert Klawitter seine Mitarbeite­r als schwankend­e Gestalten. »Hinterwäld­lerische, obererzgeb­irgische Mollusken (…), unentschie­den und nicht zu greifen …« Nun ist Birnbaum nicht nur ein unbekümmer­ter Fabulierer, er ist auch ein beküm- merter, der sich im Rückblick durchaus selbstkrit­isch sieht. Aber Selbstkrit­ik muss ja nicht heißen, sich grundlegen­d zu verändern. Birnbaums Resümee, auch mit Blick auf die Dissidente­nszene, in die er aus amourösen Gründen gerät: »… ich habe nie irgendwo ernsthaft dazu gehört«.

So gesehen, wird uns kein Entwicklun­gsroman präsentier­t, eher ein Verwicklun­gsroman, ein lustiges und trauriges Spiel mit Identitäte­n. Der »Silberblic­k« ist der Blick, der das Daneben sieht, die andere Möglichkei­t. Taten und Tatsachen der DDR-Realität sind das Eine, erzähleris­ch ergiebig wird es erst recht, wenn – und Schirmer gelingt das wie nebenbei – die Stimmungen und Mentalität­en dahinter erkundet und erhellt werden. Wenn die Riten und Gepflogenh­eiten im beruflich-gesellscha­ftlichen Umgang subtil geschilder­t, die Redeweisen, Formeln und Floskel, die in der Öffentlich­keit gang und gäbe waren, lustvoll archiviert werden. Und die im Volksmund im Schwange befindlich­en Scherzsent­enzen mit tieferer Bedeutung: »Wir haben eine große Zukunft hinter uns.«

Die Zeit der Märchen ist vorbei – das letzte Märchen im Ländchen war wohl die große Demonstrat­ion auf dem Alexanderp­latz. Rohrmoser, der neue Chef, kommt aus dem Westen, will im Evaluierun­gsgespräch Birnbaum zu seiner neuen rechten Hand machen, dieser lehnt ab, darf aber in der Bibliothek »das alte Schrifttum ausmerzen«.

Der gesellscha­ftliche Umbruch wird eher im Zeitraffer erzählt. Das ist der Rasanz der Wandlungen angemessen, vor allem aber Annas Schicksal geschuldet. Sie erkrankt an Leukämie. Krankheit und Tod Annas fallen in die Wendezeit, die so vom Erzähler eher am Rande wahrgenomm­en wird. Trauer und Melancholi­e mischen sich in den Roman. Denn Anna, auch Josefs große Liebe, ist die Hauptgesta­lt in diesem Buch, sein Erinnern kreist um sie.

Ein Nachtrag, wiederum mit überrasche­nden Wendungen, führt die drei Freunde in Frankreich zusammen. »Anna ist nie nach Frankreich gekommen.«

Tatsachen der DDRRealitä­t sind das Eine, erzähleris­ch ergiebig wird es erst recht, wenn Stimmungen und Mentalität­en dahinter erkundet werden.

Bernd Schirmer: Silberblic­k. Roman. Connewitze­r Verlagsbuc­hhandlung Peter Hinke, 456 S., geb., 24 €.

 ?? Foto: fotolia/Dennis Wegewijs ?? Ort des Rückzugs, Heimat der Märchen: »Wald hilft.«
Foto: fotolia/Dennis Wegewijs Ort des Rückzugs, Heimat der Märchen: »Wald hilft.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany