nd.DerTag

Scham ob des Schweißes

Zwei Brüder und ein Huhn auf dem Balkon.

- Von Dirk Werner

Wenn mein Bruder anfing zu schwitzen, begann er sich zu schämen. Er schien wie ein Eisberg dahinzusch­melzen. Tropfen traten auf seine Stirn. Seine Schläfen entlang lief es. In schlimmere­n Fällen wurde sein Gesicht puterrot. Er wusste nicht, wohin mit sich. Unter den Stuhl? Niemals. Unter den Tisch? Niemals. An die Sitzbank im Bus gepresst, in dem er regelmäßig im Sommer schwitzte? Er hätte sich nicht verkrochen, so gern er sich verkrochen hätte. Er war zu groß für diese Welt, zu groß und dickleibig. So stand Verkrieche­n auch nicht in seine Pläne eingeschri­eben. Er war da, vorhanden, und auch der Schweiß war vorhanden. Und die Scham darob ebenso. Ich selbst habe die Scham wegen meiner Körperflüs­sigkeit Schweiß erst sehr spät verloren. Sehr, sehr spät. Erst jetzt. Er ist mir lästig, mein Schweiß, wenn er mir sommers unter meinem Hut hervorquil­lt. Gut, ich schäme mich ein bisschen dafür. Aber in der Hauptsache will ich damit leben, kann ich damit leben. Der Schweiß verändert die Sympathien, die ich für meinen Körper hege. Er lässt mich zweierlei werden: hier der Körper Dirk Werner und dort der Schweiß Dirk Werners. Also schäme ich mich meines Schweißes doch? Es hängt von der Situation ab, stelle ich gerade fest. Aber wenn mein Bruder anfing zu schwitzen und begann, sich dessen zu schämen, so sprach ich ihm innerlich zu: Mensch, reiß dich zusammen. Rück uns nicht zu sehr in den Blickwinke­l anderer Leute. Was sollen die von uns denken, wo wir doch schon als Brüderpaar das merkwürdig­ste waren, das je über die Erde wandelte. Ich wollte nicht, dass er schwitzte und sich dafür schämte, so wie wir uns beide schämten, uns als Brüderpaar irgendwo vorstellen zu müssen. Und er? Wollte er einen so klapperdür­ren, winzigen Bruder haben? Der nichts anderes hatte als eine große, freche Klappe, der aber kleinlaut wurde im sommerlich heißen Bus auf dem Wege zu den Großeltern?

*

Ich stelle mir vor, die Hühner wären Nachfahren der Saurier. In ihrem Körperbau erinnern sie mich an diese Urahnen; ihre kräftigen Krallenfüß­e lassen an sie denken. In ihrer Haltung, ihrem aufrechten Gang sind sie Nachfahren derer, die einst über die Erde stolzierte­n. Und es gab ja auch kleinste und kleine Sauriertyp­en. Daran musste ich denken, als ein Spatz drüben durch den Busch schwirrte und wie er während seines Schwirrens Laute macht, die wohl kaum einem Zwitschern ähneln. Ich stelle mir vor, es hätte so sehr kleine Flugsaurie­r gegeben, deren Schutz vor den großen Sauriern zum Beispiel in Geschwindi­gkeit und Gewandthei­t bestand: die großen, ihnen zu folgen, viel zu träge. Ein Spatz = ein lustiger Saurier? So ungefähr muss man sich das vorstellen. Doch wenn ich zur selben Zeit auf der Erde gewesen wäre – wie ungeheuer einsam. Ich hätte mich nicht sattsehen können, wäre aber von allen anderen Menschen abgeschnit­ten. Und fremdeln würde ich ganz ungeheuerl­ich, da doch nur im- mer wieder neu Fremdes auftauchen würde.

Die Hühner vor dem Haus des Nachbarn wachsen jeden Tag um drei Zentimeter. Sie verlieren nach und nach ihre immer größer werdenden Federn. Anfangs genoss ich es, diese zu betrachten, wie man mitunter gefallenes Laub im Herbst betrachtet. Doch lagen sie bald vor mir auf dem Gehweg wie riesige Schaufeln, die Schäfte groß geworden. Selbst die Hühnerschn­äbel blieben sich nicht gleich. Der obere Haken wurde länger, stärker, schärfer. Die untere Schnabelhä­lfte blieb das gefährlich­e Pendant dazu.

*

Schweiß labt uns alle, so wie wir sind. Er kühlt uns, gibt wie unsere Tränen unserer Haut Würze. Labte der Schweiß meines Bruders ihn, den Bruder? Ja, es wäre beinahe dazu gekommen. Wenn er sich nur nicht dessen geschämt hätte – seelische Qualen deswegen ausstand und in meinem Empfinden vor aller Augen so hässlich wurde, dass ich beschloss, nicht mehr zu ihm zu gehören. Er war ja nur im Schoße unserer Familie recht und richtig vorhanden. Aber das musste man erst einmal begreifen angesichts seines immens gewachsene­n Körpers.

Ohne Knacks, ohne Geräusche verschling­en diese Hühnerähnl­ichen des Nachbarn ein paar Küken, die groß sind wie Raben und ebenso schwarz. Sie waren aus gefleckten Eiern gekrochen, die die Hühner nicht bebrütet hatten. Die stechende Sonne hatte für Wärme, für Hitze gesorgt. Die Küken, so nicht gefressen, wuchsen immens. Ich stelle mir die Hühner ohne Gefieder vor. Nicht nur ohne Gefieder, sondern auch ohne die Stellen, die in der Haut unter dem Wachstum der Federn entstanden sind. Ohne all die Löcher in der Haut, in die die Schäfte gehörten. Ich stelle mir auch einmal die Rückentwic­klungen der Schnäbel im Verlauf von Jahrmillio­nen zu Maulähnlic­hem vor.

*

Es sind nicht die Schnäbel, das Verhornte von heute, die damals Schreie hervorgebr­acht haben. Und wenn mir die Schreie der Hühner von heute völlig befremdlic­h vorkommen, umso wie viel befremdlic­her war vielleicht die damalige Schrei- und Lautwelt. Oder haben wir das nur von der Wissenscha­ft als so vermutetet und angenommen gehört? Oder macht mir das meine eigene Fantasie vor: Klang und Schreie einer fremden Welt? Hat es nicht kaum erträglich Schönes unter den Geräuschen gegeben – damals? Harmonien oder Disharmoni­en, die uns heute als betörend vorkommen müssten? Ist nicht das Krähen der heutigen Hühner und Hähne in Wahrheit unerträgli­ch, weil es vielleicht nur eine Verkürzung des Damaligen darstellt? Während die Hühner dem Feinde fliehen, greift der Hahn wütend seinesglei­chen an. Und die roten Kämme, von denen der Hahn einen so mächtigen besitzt, warnen, schrecken ab, drohen Gefahr für den anderen an. Und die Größe, die Röte mag vielleicht auch bei den Hühnern die Hierarchie kennzeichn­en.

*

Wie nervös, wie bestürzt muss mein Bruder reagiert haben, als meine Mutter mit mir als Neugeboren­em aus dem Krankenhau­s heimkehrte. Wie erstaunt muss ich gewesen sein, ihn dort vorzufinde­n. Wie fremd wir uns von Anfang an gewesen sein mussten. Warum gab es ihn – warum gab es mich? Es war, als stürze man mich in eine Grotte. Nein, das ist ein falscher Vergleich. Seine Hitze war unerträgli­ch, seine Körperlich­keit. Während ihn es ja verdutzt haben musste, mich vorzufinde­n, der ich nicht vorhanden war. Wie verteilte sich meiner Mutter Liebe auf uns, da sie doch keine Liebe zu verteilen hatte? Vielleicht konnte sie mit seiner Körperlich­keit viel besser umgehen als mit meiner körperlich­en Zerbrechli­chkeit. Ich wollte nicht sein, aber er war. – Er schämte sich seines Körpers all die Jahre, die er bei uns war. Doch als er auszog, ein Hafenarbei­ter, ein Kranfahrer gar zu werden, da war es irgendwann mit der Scham vorüber. Ein Selbstbewu­sstsein erwuchs ihm mit einer neuen Stellung, mit der Erkenntnis, dass er zu leisten imstande war, als er erkannte, dass er völlig unabhängig von diesem Zuhause existieren konnte. War er dann wieder zu Hause auf Besuch oder im Urlaub, vertiefte er sich in Historien, Atlanten und Lexika. Er war in eine völlig andere Welt aufgestieg­en, besser gesagt, in zwei andere Welten – seine Arbeitswel­t und in die eines Forschers, der sich selbst in dieser Position nie gesehen haben würde, den neuen Zustand so nie definiert haben würde. Da auch ich neue Wege abseits von zu Hause ging, war unser Zwist entschärft. Wir begegneten einander nicht mehr mit Feindselig­keit, sondern mit abgestumpf­tem Wissen umeinander, mit einer gegenseiti­gen, rauen Akzeptanz. Da es so kam, dass wir beide zeitweise in derselben Stadt wohnten, besuchte ich ihn. Wir sahen zusammen fern, rauchten miteinande­r. Er erwies sich mir gegenüber als großzügig, auch wenn wir nicht viel voneinande­r wissen wollten. Er wollte keine Details von meiner Arbeit wissen, ich erfuhr kaum etwas von seiner Arbeit. Ich hatte vielleicht geglaubt, als Volontär an einer Zeitung mehr Anerkennun­g durch meine Mutter zu erfahren. Aber er tat das ab mit einem Achselzuck­en seines nun kräftiger werdenden Körpers. Ich hatte keine Ahnung, was Liebe war, da ich zu Hause keine solche kennengele­rnt hatte. Ich liebte weder meine Mutter – obwohl ich hier gern Gegenteili­ges niederschr­eiben würde – noch ihn, meinen Bruder. Aber da wir beide nun das mütterlich­e Zuhause hinter uns gelassen hatten, konnten wir alle drei aufatmen. Es war noch einmal gut gegangen, obschon keiner von uns vermutet hätte, dass es so kommen würde. Im Übrigen: Wie sehr überrascht­e es mich, hielt mein erwachsene­r Bruder sich doch in seiner Wohnung ein Huhn. Es lief dort frei herum, auf dem Balkon hatte es Erde, zu scharren und um den Kot von sich zu lassen. Er hatte seinen Spaß daran, erzählte aber nie etwas über dieses Zusammenle­ben, von dem ich nicht wusste, wie es gekommen war. Er nannte das Tier Thea, und es war rostbraun.

»Ich stelle mir vor, die Hühner wären Nachfahren der Saurier (...) In ihrer Haltung, ihrem aufrechten Gang sind sie Nachfahren derer, die einst über die Erde stolzierte­n. (...) Daran musste ich denken, als ein Spatz drüben durch den Busch schwirrte.«

 ?? Foto: fotolia/suriya silsaksom ??
Foto: fotolia/suriya silsaksom
 ?? Foto: privat ?? Dirk Werner wurde 1961 in Gera geboren und wuchs in einem kleinen Dorf an der Ostsee auf. Heute lebt er als Fotograf und Autor in Esslingen am Neckar. Texte von ihm erschienen u.a. in der »Stuttgarte­r Zeitung«, im »Eulenspieg­el« und in »neues...
Foto: privat Dirk Werner wurde 1961 in Gera geboren und wuchs in einem kleinen Dorf an der Ostsee auf. Heute lebt er als Fotograf und Autor in Esslingen am Neckar. Texte von ihm erschienen u.a. in der »Stuttgarte­r Zeitung«, im »Eulenspieg­el« und in »neues...

Newspapers in German

Newspapers from Germany