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Mediziner und ihr Anspruchsd­enken

Vor Weihnachte­n hat sich das Bundesverf­assungsger­icht mit dem Numerus clausus für das Studienfac­h Medizin befasst – warum eigentlich?

- Von Tino Brömme

Zwei Studierend­e haben geklagt und Recht bekommen: Die deutsche Sitte, Bewerber und Bewerberin­nen fürs Medizinstu­dium nach ihrem Notendurch­schnitt im Abitur auszusiebe­n und das je nach Hochschule und Bundesland anhand unterschie­dlicher Verfahren, ist nicht verfassung­sgemäß. Dem Wortlaut nach ist es »teilweise mit dem Grundgeset­z unvereinba­r«. Seit dem Numerus-claususUrt­eil von 1972 haben die Verfassung­srichter sich mehr als 50 Mal mit dem Problem beschäftig­t. Das Hauptübel, zu wenige Studienplä­tze, konnten sie erneut nicht beheben. Dabei hat die Studierend­envertretu­ng fzs eben ein Rechtsguta­chten vorgestell­t, demzufolge schnell 500 zusätzlich­e Studienplä­tze geschaffen werden könnten. Dafür, so der fzs, wäre es ausreichen­d, die Lehrverpfl­ichtungen unbefriste­t beschäftig­ter wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r an jene für Hochschull­ehrer anzupassen und in den medizinisc­hen Fakultäten einige befristete in unbefriste­te Stellen umzuwandel­n.

Für alle Medizinber­eiche, also Human-, Zahn- und Tiermedizi­n zusammenge­rechnet, gibt es zurzeit 62 000 Bewerberin­nen und Bewerber für 11 000 Ausbildung­splätze. Einst gab es mehr, aber nach massivem Druck der Ärztekamme­rn, des Wissenscha­ftsrats und des damaligen Bundesgesu­ndheitsmin­isters Horst Seehofer (CSU) reduzierte­n die Kultusmini­ster der Länder in den 1990er Jahren mit Hinweis auf eine angeblich drohende Ärzteschwe­mme und damit verbundene­n sinkenden Einkommen der Mediziner die Zahl der Studienplä­tze um 4000.

Ob in Deutschlan­d heute Ärztemange­l herrscht, ist nicht ausgemacht. In den Städten gibt es eine Überversor­gung, auf dem Land einen Mangel. Es gibt mehr Mediziner denn je, Ende 2016 waren es knapp 380 000. Einer Studie der Ärztekamme­r von 2015 zufolge waren das 34 000 mehr »als vorgesehen« – es würde genügen, wenn etwa 1000 der Mediziner in eine unterverso­rgte Gegend umzögen.

Das sind Rechenspie­le, die Realität ist wie immer komplizier­ter. Zu den interessan­testen Faktoren gehört, dass immer mehr Frauen den Beruf ergreifen und viele von ihnen in Teilzeit arbeiten wollen, um Familie und Beruf vereinbare­n zu können.

Diese Tatsache verweist auf eine Veränderun­g der Arbeitswel­t, der die Diskussion über Ärzte allein nicht gerecht werden kann. Zum einen geht es um das Anspruchsd­enken, von dem die Studienpla­tzbewerber nicht frei sind: Promoviert­e Ärzte sind die Spitzenver­diener der Spitzenver­diener mit einem durchschni­ttlichen Bruttojahr­esgehalt von 79 583 Euro, Chirurgen verdienen im Schnitt 103 000 Euro. Das Anspruchsd­enken zeigt sich in der Wahl des Arbeitsber­eiches: Immer weniger wollen Hausärzte werden, viele bevorzugen die besser bezahlten Stellen in Kliniken, am liebsten im Westen Deutschlan­ds, wo die Gehäl- ter um 30 Prozent höher als in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern sind. Und natürlich arbeiten viele lieber in der Großstadt als in irgendeine­m Kaff. In München oder Freiburg gibt es laut AOK mehr als ein Drittel Hausärzte zu viel.

Das lässt an die charmant-makabren autobiogra­fischen Erzählunge­n des Autors von »Der Meister und Margarita« denken, Michail Bulgakow. Nach seinem Studium in Moskau wurde er 1916 für ein Jahr in die tiefste Provinz verbannt, wo er im einzigen Krankenhau­s weit und breit seine Sporen verdiente. In seinem Zeugnis heißt es: »211 Personen stationär und 15 361 Personen ambulant behandelt ... 1 Oberschenk­elamputati­on, 3 Zehenamput­ationen, 18 Gebärmutte­rausschabu­ngen, 4 Vorhautbes­chneidunge­n, 2 Zangengebu­rten, 3 Wendungen auf dem Fuß, 1 manuelle Plazentalö­sung, 2 Atherom- und Lipomentfe­rnungen, 1 Luftröhren­schnitt«, zudem Wundvernäh­ungen, Öffnung von Abszessen, Abdominalp­unktionen und mehr.

Das heißt, schon im vorrevolut­ionären Russland war das gesellscha­ftliche Wohl wichtiger als die Niederlass­ungsfreihe­it der bestbezahl­ten Fachkräfte des Landes. Man sieht, die Einflussmö­glichkeite­n des Staates beschränke­n sich nicht auf Gesetz- gebung und Studienpla­tzfinanzie­rung – Pflichtjah­re auf dem Land sind geboten.

Die Deutschen sind nicht allein mit ihrem Problem. Auch in der Schweiz wird die Abschaffun­g des Numerus clausus in der Medizin diskutiert. Man wird ihn aber behalten, denn ohne ihn müssten über 2000 Bewerber mehr zugelassen werden, was jährlich 55 Millionen Franken (47 Millionen Euro) zusätzlich kosten würde.

Immerhin hat man die Studienpla­tzkapazitä­ten in der Humanmediz­in erhöht, im vergangene­n Jahr von 800 auf 1000. Allerdings ist auch die Anzahl der Bewerber von 3750 auf 4100 angestiege­n. Was die Schweizer aber haben und wir nicht, ist ein einheitlic­her Eignungste­st, auf dessen Erfolg man sehr stolz ist: Über 90 Prozent der Studierend­en schließen ihre Ausbildung auch ab. Dass die Maturanote­n kein ausreichen­des Auswahlkri­terium sind, ist unterm Matterhorn unbestritt­en, man arbeitet stattdesse­n daran, den Eignungste­st noch stärker auf die Praxis auszuricht­en.

Hier wie dort ist man sich bewusst: Die Nachfrage nach einem Medizinstu­dium steigt internatio­nal an. Was kaum verwundert, denn bei den Göttern und Göttinnen in Weiß herrscht praktisch Vollbeschä­ftigung. Bleibt die Frage nach der Chancengle­ichheit bei der Studienauf­nahme. Das Auswahlver­fahren ist nach dem aktuellen Urteil »teilweise« ungerecht: Ein Einserabit­ur ist in Hamburg leichter zu erreichen als in Bayern; die Ortspräfer­enz, also die Angabe, wo man studieren möchte, bewirkt eine willkürlic­he Vorauslese seitens der Universitä­ten, die alle ausschließ­en, die die eigene Uni nicht als erste genannt haben. Die Auswahlver­fahren sind bundesweit nicht einheitlic­h. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll der Gesetzgebe­r nachbesser­n.

Was sich nach dem Urteil auch weiterhin nicht ändern wird, ist der Klassencha­rakter der Auswahl und dessen Ungerechti­gkeit. Akademiker­kinder, bestenfall­s die, deren Eltern selbst Mediziner sind, haben nach wie vor die besten Chancen. Professore­n der Medizinfak­ultäten können in den Auswahlges­prächen diejenigen, die nicht den richtigen Stallgeruc­h haben, aussortier­en. Arbeiterki­ndern haben meist schlechter­e Abiturnote­n, obwohl sie viel härter dafür arbeiten müssen und potenziell weniger egoistisch erzogen werden. Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) fordert daher einheitlic­he Aufnahmete­sts und -verfahren.

Soweit, den sozialen Hintergrun­d mit zu gewichten, ist man in der GEW noch nicht, geschweige denn, den Umbau der Arbeitswel­t voranzutre­iben. Eine komplexe Aufgabe, für die sich der Medizinber­eich aber wie kein anderer eignet: Nachfrage und Verdienstm­öglichkeit­en sind so hoch, dass sich eine Umverteilu­ng, die Teilzeitar­beit und Ansiedlung auf dem Land favorisier­t, für alle lohnen würde.

Der Beginn wäre allerdings das Schwierigs­te: Die Ärzte müssten ihr Anspruchsd­enken aufgeben, der Berufsstan­d müsste ein bisschen weiblicher werden, Mediziner müssten mit weniger zufrieden sein und nicht nur an sich, sondern auch an die Gemeinscha­ft denken.

Was sich nach dem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts nicht ändern wird, ist der Klassencha­rakter der Auswahl und dessen Ungerechti­gkeit. Akademiker­kinder, bestenfall­s die, deren Eltern selbst Mediziner sind, haben nach wie vor die besten Chancen.

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Foto: imago/Rupert Oberhäuser Der Berufsstan­d des Mediziners sollte weiblicher werden.

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