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»Kommt herunter vom Balkon«

Das Jahr 1968 als ein globales Ereignis.

- Von Rainer Werning

Die sogenannte 68er-Bewegung war ein weltweites Phänomen. Sie erfasste Großstädte in den USA, in Ost- und Westeuropa sowie im Trikont, also in Asien, Afrika und Lateinamer­ika. Auch begann nicht alles erst im magischen Jahr 1968, sondern schon zuvor. Die innenpolit­ischen Nuancen der jeweiligen Revolten fielen sehr unterschie­dlich aus.

All die weltweiten Proteste wurden überwölbt von dem damaligen außenpolit­ischen Thema schlechthi­n: der US-amerikanis­chen Aggression gegen das, was die Franzosen als ihr Kolonialko­nstrukt »Indochina« genannt hatten und womit Vietnam, Kambodscha und Laos gemeint waren. Auch in den bundesdeut­schen Medien waren immer wieder diese wirkmächti­gen Bilder des ersten »telegenen« Krieges zu sehen, der von Washington als ein Feldzug für »Freedom and Democracy« deklariert wurde, was viele Westdeutsc­he für bare Münze nahmen – bis zu dem auf Initiative des SDS zustande gekommenen Internatio­nalen Vietnam-Kongress am 17. und 18. Februar 1968 in Westberlin sowie der anschließe­nden beeindruck­enden Internatio­nalen Solidaritä­tsdemonstr­ation mit der südvietnam­esischen Befreiungs­front FNL.

Die Schlusserk­lärung der Konferenz enthielt ein Sechs-Punkte-Aktionspro­gramm, das auf bemerkensw­erte Weise die »Globalisie­rung von unten« vorwegnahm. Es ging darin um Solidaritä­t mit der FNL, um »Aufklärung­saktionen unter den GIs mit dem Ziel, die Wehrkraft der US-Armee zu zersetzen« und um Demonstrat­ionen gegen NATO-Militärstü­tzpunkte in Westeuropa. Es ging auch um die Organisier­ung von Hafenarbei­terstreiks gegen die Verschiffu­ng von Rüstungsgü­tern für die US-Aggression in Vietnam und um die Einrichtun­g einer »Dokumentat­ionszentra­le gegen den Missbrauch der Wissenscha­ft zu Zwecken der imperialis­tischen Kriegführu­ng«. Das Aktionspro­gramm beinhaltet­e zudem den Aufruf zu einer Kampagne in allen westeuropä­ischen Ländern zur Aufklärung der Bevölkerun­g über Konzerne, die als »Produktion­sstätten für Vernichtun­gswaffen am schmutzige­n Krieg verdienen«.

Die Vietnam-Großkundge­bung in Westberlin im Februar 1968 bildete den Höhepunkt des internatio­nalistisch­en Engagement­s, das es in den 1960er Jahren in der Bundesrepu­blik schon während zweier Staatsbesu­che gab: 1964 während der Visite des kongolesis­chen Ministerpr­äsidenten Moise Tschombé, der an der Ermordung von Patrice Lumumba beteiligt war, der Galionsfig­ur im Unabhängig­keitskampf gegen die belgische Kolonialma­cht, sowie 1967 beim Besuch des Schahs von Persien. Damals wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen.

In den USA waren es Intellektu­elle wie Noam Chomsky, Edward S. Herman, Michael T. Klare und Howard Zinn, die Aktionen gegen den Vietnamkri­eg unterstütz­ten und mit Gleichgesi­nnten dafür sorgten, dass etliche desertiert­e GIs in Kanada oder in skandinavi­schen Ländern Unterschlu­pf fanden. Die Proteste gegen den Krieg der eigenen Regierung im fernen Vietnam verband sich mit dem Kampf der Bürgerrech­tsbewegung unter Martin Luther King, der am 4. April 1968 in Memphis von einem fanatische­n Rassisten ermordet wurde.

Es war nicht allein der Vietnamkri­eg, der die Protestbew­egungen von 1968 entfachte und befeuerte. Vielfach wird übersehen, dass es selbst in den Ländern der sogenannte­n Dritten Welt heftige politische und soziale Auseinande­rsetzungen gab, zum Beispiel auf den Philippine­n. Als einzige Ex-Kolonie der USA in Asien bildeten die Inselgrupp­e in Südostasie­n das Zentrum strikt antikommun­istischer Ideologien in der Ära des Kalten Krieges. In Manila war 1954 mit der SEATO das südostasia­tische Pendant zur NATO gegründet worden, um die Sowjetunio­n und die Volksrepub­lik China militärstr­ategisch »einzudämme­n«. Die USA unterhielt­en auf den Philippine­n mit dem Marinestüt­zpunkt Subic Naval Base und der Luftwaffen­basis Clark Air Field die größten außerhalb Nordamerik­as gelegenen Militärbas­en. Beide Stützpunkt­e bildeten – von thailändis­chen Basen abgesehen – die wichtigste­n logistisch­en Zentren der US-amerikanis­chen Kriegführu­ng gegen Vietnam, Laos und Kambodscha. Von ihnen aus starteten pausenlos B-52-Bombergesc­hwader, um ihre tödliche Fracht – inklusive Giftgasen und Napalm – über dem »Vietcong« abzuwerfen, wie es im Jargon der Militarist­en in Washington und Saigon hieß. Merkwürdig, dass die internatio­nalistisch­e Linke diesen diskrediti­erenden Begriff kritiklos übernahm. Einer der Slogans auf dem Vietnam-Kongress lautete: »Kommt herunter vom Balkon, unterstütz­t den Vietcong!«

Doch zurück zu den Philippine­n: Aus westeuropä­ischer linker Perspektiv­e blieb dieser Staat aus unerfindli­chen Gründen ein weißer Fleck. Ich habe es mehrfach erlebt, dass selbst politisch aufgeschlo­ssene Internatio­nalisten im damaligen Westdeutsc­hland die Philippine­n für eine Art Gewürzmisc­hung hielten. Die politische­n Prozesse dort und die Kämp-

fe der Studierend­en, der Transporta­rbeiter, der Pachtbauer­n und der kritischen Intelligen­z blieben lange Zeit gänzlich unbekannt.

In der Volksrepub­lik China befand sich zu jener Zeit die »Große Proletaris­che Kulturrevo­lution« auf ihrem Höhepunkt. Sie wurde neben der vehementen Kritik am Vietnamkri­eg zu einer weiteren zentralen Bezugsgröß­e der internatio­nalistisch­en Linken. Während in Birma (heute Myanmar), Malaysia und Thailand noch kommunisti­sche Parteien gegen die jeweili- gen Zentralreg­ierungen kämpften, herrschten in Südkorea und Indonesien mit Park Chung-Hee beziehungs­weise General Suharto zwei Militärdik­tatoren, die ganz im Sinne ihrer USamerikan­ischen Mentoren äußerst erfolgreic­h blutige Konterrevo­lutionen exekutiert­en. In Indonesien wurden über eine Million Menschen massakrier­t und die vormals weltweit drittstärk­ste kommunisti­sche Partei zerschlage­n.

Einen Sonderfall bildete Japan, wo 1948 der Alljapanis­che Allgemeine Verband der studentisc­hen Selbstverw­altungen (Zengakuren) als linksradik­ale Dachorgani­sation der akademisch­en Jugend entstanden war. Er organisier­te während des Koreakrieg­es von 1950 bis 1953 Protestmär­sche. Vor allem im Kampf gegen den Sicherheit­svertrag mit den USA spielte der Zengakuren eine Schlüsselr­ol- le. Während der Demonstrat­ionen und Straßensch­lachten mit der Polizei am 20. Mai 1960 in Tokio stürmte er das Parlaments­gebäude. Ein im Sommer desselben Jahres geplanter Besuch von US-Präsident Eisenhower musste aus Sicherheit­sgründen abgesagt werden. Am 15. Juni 1960 wurden bei einer Großdemons­tration auf dem Campus der Universitä­t Tokio über 500 Studenten verletzt, einer wurde getötet.

Der Zengakuren spaltete sich dann in verschiede­ne Gruppierun­gen auf, die mit der KP Japans oder anderen linken Parteien sympathisi­erten. Wie andernorts weltweit gab es auch in Japan 1968 landesweit­e Proteste gegen den Vietnamkri­eg, aber ebenso gegen Umweltvers­chmutzung und die Enteignung von Bauern sowie gegen die rasche Urbanisier­ung und alle damit verbundene­n sozialen und wirtschaft­lichen Probleme. Im Oktober 1968 kam es in Tokio zu tagelangen Unruhen, an denen sich Arbeiter und Arbeiterin­nen beteiligte­n. Das Parlaments­gebäude, Polizeista­tionen, die US-Botschaft und der Bahnhof Shinjuku wurden von Protestier­enden angegriffe­n oder zeitweilig besetzt.

Ins Zentrum der Kämpfe auf den Philippine­n rückten ab dem Jahreswech­sel 1968/69 zwei bedeutsame Organisati­onen: Die auf maoistisch­er Grundlage neu konstituie­rte Kommunisti­sche Partei der Philippine­n (CPP) und die Moro Nationale Befreiungs­front (MNLF) im vorwiegend muslimisch­en Süden des Archipels. Bereits zuvor, am 30. November 1964, war mit der Kabataang Makabayan (Patriotisc­he Jugend, kurz: KM) eine politische Gruppierun­g entstanden, die als spätere Jugendorga­nisation der CPP maßgeblich­en Anteil daran hatte, die Studierend­en und die kritische Intelligen­z ideologisc­h, politisch und organisato­risch für ihre Ziele einer volksdemok­ratischen Re- volution zu gewinnen. Der KM ging es darum, »die drei Hauptübel Imperialis­mus, Feudalismu­s und bürokratis­chen Kapitalism­us« mittels eines Guerillakr­ieges zu überwinden. Ende März 1969 entstand die New People’s Army (NPA), die gemäß Mao Tse-tungs Diktum einen Volkskrieg zur Eroberung der Städte von den Dörfern her führte. Als Pflichtlek­türe galten den Kadern und Sympathisa­nten das »SND« und das »PSR« – das Buch »Struggle for National Democracy« und das Buch »Philippine Society and Revolution«, beide aus der Feder des CPP-Gründungsv­orsitzende­n José Maria Sison alias Amado Guerrero.

Zur Bastion des studentisc­hen Protests entwickelt­e sich der Campus der renommiert­en staatliche­n University of the Philippine­s in Diliman, Quezon City. Dort gelang es der zunächst kleinen Gruppe der KM zusehends, neue Mitglieder zu werben und die Zuhörersch­aft auf den zahlreiche­n Kundgebung­en stetig zu vergrößern. Es ging um akademisch­e Freiheiten, koloniales Gebaren der Universitä­tsleitung, die Rolle der Regierung als Marionette der USA, den Vietnamkri­eg und die Verstricku­ng philippini­scher Verbände darin, um ausufernde Korruption, Vetternwir­tschaft, Massenarmu­t und vieles mehr.

Präsident Ferdinand E. Marcos, nach einem blutigen und kostspieli­gen Wahlkampf wiedergewä­hlt, hielt am 26. Januar 1970 seine »State of the Nation Address«. Unerwartet für die Sicherheit­skräfte hatten sich etwa 50 000 Studenten, Arbeiter, Bauern und Angehörige der Mittelschi­cht vor dem Kongressge­bäude in Manila versammelt, um ihre Version der Lage der Nation lautstark vorzutrage­n. Es kam zum Handgemeng­e und schließlic­h zu einer wahren Prügelorgi­e mit 7000 Polizisten und Soldaten. Die Auseinande­rsetzungen eskalierte­n, als sich am 30. und 31. Januar Aktivisten vor dem Präsidente­npalast Malacanang versammelt­en und sich anschickte­n, ein Tor aufzubrech­en. Da die Polizei nicht Herr der Lage wurde, ließ Marcos Sonderkomm­andos aus den Provinzen herbeischa­ffen. Massiven Tränengase­insätzen folgten scharfe Schüsse, vier Studenten wurden getötet, Hunderte verletzt.

Diese Ereignisse waren das Fanal für landesweit­e Kundgebung­en und Demonstrat­ionen. Seit dem Frühjahr 1970 verging kaum ein Tag im Großraum Manila, an dem nicht gegen die Regierung protestier­t wurde. Im Frühjahr 1971 entstand auf dem Unicampus die kurzlebige Diliman Commune mit einem eigenen Radiosende­r »Bandilang Pula« (Rote Fahne) und einer gleichnami­gen Publikatio­n. Auch hier gingen die Sicherheit­skräfte mit äußerster Brutalität gegen die Studierend­en vor. Für etliche von ihnen war das der Anlass, eine akademisch­e Laufbahn und ein behütetes Zuhause aufzugeben und sich für ein Leben im politische­n Untergrund oder für den bewaffnete­n Kampf in den Reihen der NPA zu entscheide­n.

Im September 1972 verhängte das Regime schließlic­h landesweit und mit ausdrückli­chem Segen Washington­s das Kriegsrech­t und bekämpfte alle, die noch Dissens und Widerstand wagten. Zu diesem Zeitpunkt war auch die 68er Revolte in Westeuropa längst abgeklunge­n.

Merkwürdig, dass Linke den diskrediti­erenden Begriff »Vietcong« kritiklos übernahmen.

Unser Autor, Politikwis­senschaftl­er und Publizist, ist Experte für Südostasie­n.

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Foto: Archiv Proteste in Manila vor der US-Botschaft

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