Kurz vor dem Aufprall
Rida musste aus seiner Heimat fliehen, weil er homosexuell ist. Inzwischen lebt er in Berlin und hat ein paar Fragen an die Welt, in der Liebe ein Verbrechen ist.
»Selbst wenn wir, wie ihr jetzt, in der Überzahl wären, dann würden wir euch erlauben, zu sein wie ihr seid. Das unterscheidet uns von euch. Ich verachte euch nicht. Ihr müsst lernen.«
Rida
Eins, zwei, drei, vier, fünf. Sekundenlang war hier oben Totenstille. Jetzt ist alles laut da unten. Irgendwer jubelt dort am Boden. Hassan ist gerade auf dem Asphalt aufgeprallt. 23 Etagen haben sie ihn vom Manar-Hochhaus heruntergestoßen. Der Nächste ist Rida. Gefesselt und geknebelt kniet er da seit drei oder vier Minuten in der glühenden Hitze auf diesem verkommenen gelben Hochhaus. Unten hört er die wöchentliche Ansammlung von Menschen. Sie ergötzen sich an Hassans Leiche. Das weiß Rida, obwohl er eine Augenbinde trägt. Sie fotografieren den leblosen Körper, um die Bilder später auf Facebook zu verbreiten.
Woher er das weiß? Was gerade passiert, passiert regelmäßig dort, wo er lebt. Rida und die anderen befinden sich auf dem Dach dieses Hochhauses, von dem radikal-extremistische Fanatiker regelmäßig homosexuelle Männer und Frauen hinunterstoßen. Beim letzten Mal, am vergangenen Freitag, war Rida noch bei den anderen unten. Sie hatten einen Mathelehrer betrunken mit seinem Partner inflagranti erwischt. Als sie den Lehrer an Rida, der schweigend in der grölenden Menge stand, vorbeizerrten und in das Hochhaus eskortierten, war es für Rida unerträglich, ihm in die Augen zu sehen. Aber er musste es. Der Lehrer war einer von wenigen, die wuss- ten, welche sexuelle Orientierung Rida hat.
Nun kniet Rida dort oben. Er wird der Nächste sein, der gleich fotografiert wird. Egal, wie er nach dem Aufprall aussehen wird. Denn ihn hat man auch erwischt. Mit Hassan. Der ist schon unten. Genau wie Rida gleich unten sein wird. Entstellt vom Aufprall auf dem heißen Asphalt. Er fragt sich, wohin er gleich kommen wird, wenn er dann tot ist, wie es dort an diesem anderen Ort aussieht. Ist es kalt oder warm? Ist es hell oder dunkel? Ist er dort willkommen? Oder wird man ihn auch dafür hassen, dass er ist, wie er ist?
Plötzlich geht alles ganz schnell. Rida nimmt alles in einem wahnsinnigen Tempo wahr. Ihm wird ganz warm. Sein Herz schlägt schneller. Ein Schweißausbruch folgt dem nächsten. Angst bestimmt seinen Verstand. Rida wacht auf einem dieser gelben Boote auf dem Mittelmeer auf, irgendwo zwischen der Türkei und Griechenland. Es ist schon fast dunkel. Die Sonne versinkt gleich am Horizont. Oft folgt ihm dieser immergleiche Albtraum, geknebelt, gefesselt und zum Tode verurteilt zu sein, jemand, der gleich von einem Hochhaus gestoßen wird, weil er angeblich ein Verbrecher ist. Rida war nie gefesselt auf diesem Hochhaus. Hassan, sein fester Freund, schon. Alles, bis auf die Sequenz vom eigenen Tod, ist wirklich passiert. Hassans Sturz, der seines Lehrers.
Kurz bevor vor Ridas Augen alles schwarz wurde und er zu träumen begann, war ein pakistanischer Junge von Bord gegangen. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Er hatte versucht, sich an Ridas Kleidung festzuhalten und ihn fast mit ins Wasser gerissen. Das bescherte Rida die Bewusstlosigkeit, die immer kommt, wenn er Angst hat.
Als Rida sich vor 15 Monaten entschloss, seine Heimat für immer zu verlassen, war er wie zum Abschied wirklich oben auf dem Hochaus. Er ging zu der Stelle, an der es immer geschieht. Dort sprach er noch ein Gebet für all die Menschen, die von hier aus ihrem Schicksal in die Augen haben sehen müssen. Beim Hinunterschauen überkam ihn ein Gefühl von Schwindel, welches ihn bis heute in die Knie zwingt.
Sein einziges angebliches Verbrechen ist, dass er gegen mittelalterliche Moralvorstellungen verstößt. Als Mann einen Mann zu lieben, ist in seiner Heimat, die er aus Angst nicht genau benennen will, ein schweres Vergehen, für das man mit dem Tode bestraft werden kann. Das mit dem Hochhaus, sagt er, machen sie, um die Familie durch einen unwürdige Tod zu erniedrigen. Ziel ist, Homosexuellen Angst davor zu machen, homosexuell zu sein. Rida muss beim Aussprechen dieses Satzes lachen.
Rida ist Moslem. Er glaubt an Gott. Er ist sich sicher, dass Gott ihn liebt und sie, die Mordenden, hasst. Sie töten Gottes Geschöpfe nach eigenem Ermessen und eigener Rechtsprechung. Dafür werde er sie bestrafen, sagt er, während er sich kurz auf die Lippen beißt. Wahrscheinlich hat er dabei an seinen Freund Hassan gedacht. Ihn haben sie erwischt. Rida konnte fliehen. Man sah es ihm nicht an, dass er die Körper der Frauen nicht begehrt. Taktlose Sprüche und Anmerkungen mehrten sich erst mit dem Erwachsenwerden.
»Nicht, dass du einer von Lots Leuten bist?« (Lot ist eine arabische Metapher für Homosexuelle, Anm. d. Red.), hörte er immer häufiger, wenn es in Gesprächen um Frauen ging und von ihm kein wirkliches Interesse kam. Ständig zeigten die Jungen in Ridas Alter sich gegenseitig Bilder von nackten Frauen und ergötzten sich daran. Was Rida für Bilder auf seinem Handy hatte, zeigte er niemandem. Das sollte geheim bleiben wie alles, was mit Hassan und mit Sex in Verbindung stand.
Hassan war, als sie sich kennenlernten 13 Jahre alt, genau wie Rida. Er war ein Gehilfe in einer autonomen Autowerkstatt an einer langen Hauptstraße in Richtung nirgendwo. Rida sollte dort einen ausstehenden Betrag seines Chefs nachzahlen. Dort trafen sie einander, lernten sich kennen und lernten sich lieben. Privat trafen sie sich am Meer, in den Bergen oder auf endlos langen Feldwegen. Hauptsache, es war keiner in der Nähe. Dass er nie darauf gekommen war, dort wegzugehen, wo man ihn nicht akzeptiert wie er ist, kostete seinen Freund das Leben. Das wirft Rida sich vor, als stünde er für Hassans Schicksal und die Taten der Extremisten in der Verantwortung.
Rida lebt heute in Berlin. Gemeinsam mit Deliar, einem jungen Kurden aus dem nordsyrischen Kobanê. Kennengelernt haben sie sich bei einem dieser unendlichen Fußmärsche durch Osteuropa. Drei Monate teilten sich die beiden eine Zelle in einer der Berliner Turnhallen. Das sei besser als das Draußenschlafen, lächelt Rida kurz und erklärt, wie er, aus Angst, ausgeraubt oder misshandelt zu werden, mit einer Gruppe von Flüchtlingen neben der Leitplanke einer Autobahn geschlafen hatte, um immer im Licht zu bleiben. In Bulgarien wurde er verhaftet. Auf der Polizeistation musste er sich ausziehen. Das erniedrigte ihn sehr. Danach sperrten die Beamten ihn fünf Tage lang ein, weil er nicht bereit war, seine Fingerabdrücke abzugeben.
Mittlerweile wohnen Rida und Deliar in einer 5er-WG im Berliner Osten. Leute aus der linken Szene haben einen Verein gegründet und kümmern sich um unbegleitete minderjährige Geflüchtete wie ihn. Die meisten dieser Jungen und Mädchen sind im Sommer 2015 gekommen, so wie Rida. Bei seiner Ankunft in Berlin hatte er nur sein Handy, 35 Euro, ein paar Bilder seiner Familie und sein Geheimnis dabei.
In Berlin ist sein Besitz gewachsen. Er besucht wieder eine Schule. Mittlerweile spricht er gutes Deutsch. In seinem Portemonnaie befindet sich jetzt neben einem Berlin-Pass und einer Monatskarte für die BVG auch eine Krankenkassenkarte. Das Beste von seinem neuen Besitz jedoch ist, wie er sagt, dass er in seiner neuen Heimat lieben darf, wen er will. Und er darf es öffentlich.
Manchmal sitzt geht er mit Deliar in einer Shisha-Bar in Berlin-Neukölln. Dort sind sie dann wieder. Die Bärte. Die Hassenden haben sich hier ebenfalls mit ihrer Meinung ausgebreitet. Ganz legal und mitten in Deutschland. Für Rida vertreten sie die Leute, die in seiner Heimat gemordet haben. Privilegien wie außerehelichen Sex, Alkohol, Drogen und Spiel gönnen sie sich dennoch. Alle. Das verwirrt Rida.
Immer wenn er einem dieser Patriarchenkinder, wie er sie nennt, begegnet, überkommt ihn ein Gefühlsgemisch aus Angst und Abneigung. Sein Gegenüber könnte einer dieser Hochhausmörder sein. Einer dieser selbsternannten Richter.
»Schwanz ab und in den Mund reinstecken«, hatte einer dieser Bärte mal unter dem Qualm seiner Shisha herausgehauen, als wäre es wissenschaftlich relevantes Gedankengut. »Selbst wenn wir, wie ihr jetzt, in der Überzahl wären, dann würden wir euch erlauben, zu sein wie ihr seid. Das unterscheidet uns von euch. Ich verachte euch nicht. Ihr müsst lernen«, das würde Rida ihnen gerne sagen.
Und ein paar Fragen an die Bärte hat Rida auch: Warum wollen Menschen einen Menschen töten oder wünschen ihm den Tod dafür, dass er schwul ist? Warum? Was hat er ihnen getan? Rida sagt, er weiß es jetzt. Es ist, weil sie keinen einzigen homosexuellen Menschen kennen. Das denken sie zumindest.