Die fünfte Gewalt im Staat
Weil die Justiz den Tod von Oury Jalloh nicht aufklärt, machen Aktivisten Druck
Dessau. »Ich habe keinen Bock, zu diesem Scheiß noch irgendwas zu sagen.« Mit diesen Worten hatte Manfred Steinhoff seine Urteilsbegründung am Landgericht Magdeburg beendet. Er musste die tatverdächtigen Polizisten im Fall Oury Jalloh aus Mangel an Beweisen freisprechen. Nicht nur dem Richter fehlen die Worte. Auch den mehr als 3000 Demonstranten bleibt am Sonntag in Dessau nichts anderes als Sprechchöre, um Polizei und Justiz zu sagen: Wir wollen von euch die Wahrheit wissen! Am Sonntag vor 13 Jahren war Oury Jalloh unter ungeklärten Umständen in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt.
Wird es eines Tages den Beweis einer Mordtat an Oury Jalloh geben? Vermutlich nicht. Die mutmaßlichen Täter schweigen. Doch inzwischen ist die Beweislast erdrückend. Allerdings nur, weil Aktivisten selbst Nachforschungen anstellten. Und erst kürzlich hatte ein Ermittler erneut die These einer vorsätzlichen Tötung in die Öffentlichkeit gebracht. War es also wirklich Mord?
Ein bereits 2013 fertiggestelltes Brandgutachten kommt zu drei Schlüssen. Erstens. Hätte Jalloh das Feuer selbst gelegt, wäre nur ein Schwelbrand entstanden. Sein Körper aber war verkohlt. Nur mit einem Brandbeschleuniger ist das zu erklären. Zweitens. Hätte Jalloh beim Ausbruch des Feuers geatmet, fänden sich Rußpartikel in seiner Lunge – davon gab es keine Spur. Und drittens. Er hätte um sein Leben geschrien. Doch sein Adrenalinpegel war normal; Oury Jalloh muss bei Ausbruch des Feuers schon bewusstlos gewesen sein. Also Mord?
Warum hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen trotzdem immer noch nicht übernommen? Warum sperren sich Union und SPD gegen einen Untersuchungsausschuss? Deutschland ist ein Rechtsstaat: Warum ist es ihm unmöglich, dieses Verbrechen endlich aufzuklären?
Doppelt so viele Menschen wie letztes Jahr haben in Dessau an Oury Jalloh erinnert. Nach brisanten Enthüllungen fordern sie die Aufklärung des Feuertodes in einer Polizeizelle vor 13 Jahren. Vor einer Plakatwand gegenüber der Polizeiwache in der Dessauer Wolfgangstraße liegt am Morgen dieses 7. Januar ein Knäuel Papier. Es sind Überreste eines Werbebanners von der Art, wie sie an Fernstraßen auf touristische Sehenswürdigkeiten hinweisen. Das Plakat, das laut Fotos im Internet auch an der Autobahn A9 angebracht, aber dort wie vor der Wache nur kurze Zeit geduldet wurde, erinnert freilich an ein Ereignis, mit dem die Stadt in Sachsen-Anhalt ungern in Verbindung gebracht wird. »Oury-Jalloh-Stadt Dessau« war in weißer Schrift auf braunem Grund zu lesen, dazu ein Porträt des afrikanischen Asylbewerbers und eine Kerze.
13 Jahre sind vergangen, seit Oury Jalloh in der Polizeiwache Wolfgangstraße starb – verbrannt in Gewahrsamszelle 5, an Händen und Füßen
»Die Wahrheit liegt seit 13 Jahren auf dem Tisch. Warum hat man uns nicht geglaubt?« Saliou Diallo, Bruder Oury Jallohs
gefesselt. 13 Jahre, in denen die ungeklärten Fragen und »blinden Flecken« eher zahlreicher wurden, sagte ein Vertreter des Multikulturellen Zentrums bei der traditionellen Mahnwache am Sonntagmorgen. Ein Tod in einer Polizeizelle sei an sich schon erschütternd. Was aber, wenn der Verdacht besteht, dass Beamte den in »Gewahrsam« genommenen Menschen nicht nur nicht schützen konnten, sondern womöglich gar zu seinem Tod beitrugen? Das, sagt der Redner, »erschüttert die Grundlagen des Staates und des Rechtssystems«.
Im Fall Oury Jalloh ist dieser bedrückende Verdacht im Laufe von 13 Jahren und in zwei Prozessen gegen Polizeibeamte nicht nur nicht ausgeräumt worden; vielmehr stellen sich einige Fragen heute bohrender denn je. Lange war es vor allem die von Freunden Jallohs gegründete Gedenkinitiative, die Zweifel an der offiziellen These äußerten, wonach der Flüchtling das Feuer selbst gelegt haben soll. »Oury Jalloh – das war Mord«, lautete der Vorwurf bei den alljährlichen Demonstrationen am Todestag. Zeitweise reagierten Behörden äußerst gereizt; Plakate wurden beschlagnahmt. Bei ihrer diesjährigen Demonstration, zu der mit über 3000 Teilnehmern weit mehr Menschen kamen als in früheren Jahren, konnten sich die Aktivisten indes auf einen ungewohnten Kronzeugen berufen. Auf einem Plakat stand: »Oberstaatsanwalt Folker Bittmann: Anfangsverdacht auf Mord an Oury Jalloh durch Dessauer Polizisten«. Es zitiert damit ausgerechnet den Anklagevertreter, der die These von der Selbstentzündung jahrelang vor Gericht vertrat.
Seit ein Vermerk Bittmanns öffentlich wurde, der die Tötung Jallohs durch Beamte zumindest nicht ausschließt, ist von einer »Wende« in dem Fall die Rede. Mouctar Bah steht vor dem Hauptbahnhof, wo sich die Teilnehmer der Gedenkdemonstration sammeln, und schüttelt den Kopf. Der Freund Jallohs sagt, die entsprechen- den Indizien seien seit Jahren bekannt; ein unabhängiges Brandgutachten im Auftrag der Gedenkinitiative habe schon 2013 ergeben, dass Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sein musste. »Warum aber bewegt sich erst etwas, wenn die gleichen Aussagen von einem Staatsanwalt kommen?!«, sagt er. Ähnlich äußert sich Saliou Diallo, der Bruder Oury Jallohs, der an diesem Sonntag nach Dessau gekommen ist und zu den Demonstranten spricht. »Die Wahrheit liegt seit 13 Jahren auf dem Tisch. Warum hat man uns nicht geglaubt?«, sagt er und äußert einen Verdacht: »Weil wir schwarz sind?«
Immerhin: Jüngste Entwicklungen wie der Vermerk Bittmanns haben erneut Bewegung in den Fall gebracht, den die Staatsanwaltschaft Halle vor einigen Monaten schon zu den Akten gelegt hatte. Der Generalstaatsanwalt in Naumburg prüft die Akten erneut, und auch die Landespolitik bemüht sich darum, »blinde Flecken« auszufüllen. Im Parlament wurde durchgesetzt, dass Abgeordnete nun Einsicht in die Akten erhalten. In den nächsten Wochen könnten die Unterlagen – die Rede ist von sechs bis sieben Umzugskartons – im Landtag eintreffen. Welche Konsequenzen die Lektüre hat, ist offen. Die Linkspartei erhofft sich Rückhalt für die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss, sagte die Landtagsabgeordnete Henriette Quade am Rande der Dessauer Demonstration. Allerdings verfügt ihre Fraktion nicht über die nötige Zahl an Abgeordneten. Bei den Grünen stellte sich ein Parteitag kürzlich hinter dieses Ansinnen; ihre Koalitionspartner CDU und SPD zeigen indes bisher kein Interesse.
Die oppositionelle AfD schließlich stellt sich weiterer Aufklärung des Todes des Flüchtlings offen entgegen und hatte in Dessau zu einer Gegenkundgebung mobilisiert, zu der rund 150 Teilnehmer kamen – darunter neben Landeschef André Poggenburg auch prominente Köpfe von Pegida. Vorab hatte Poggenburg das Gedenken als »politischer Leichenfledderei« diffamiert und gefordert, der »jährliche linksautonome Propagandaspuk« müsse »ein Ende« haben. Die hohe Beteiligung an der Gedenkdemo zeigt, dass es danach nicht aussieht.