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Am unteren Ende der Kette

Strategiek­onferenz soll Ideen entwickeln, um Obdachlose von der Straße zu holen

- Von Johanna Treblin

Eine gesamtstäd­tische Strategie soll sowohl die Zahl der Unterkunft­splätze vergrößern, als auch präventiv dafür sorgen, dass Wohnungslo­sigkeit gar nicht erst entsteht. Ob Leinestraß­e, Jannowitzb­rücke, Kurfürsten­damm oder Strausberg­er Platz – wer in den vergangene­n Wochen mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln durch Berlin gefahren ist, konnte schnell den Eindruck bekommen: Es gibt kaum noch einen U- oder SBahnhof, an dem sich kein Obdachlose­r einen Schlafplat­z eingericht­et hat. Für die Wenigsten ist es eine Dauereinri­chtung: Die meisten Bahnhöfe werden nachts abgeschlos­sen. Dann können derzeit zumindest 1100 Menschen in Notübernac­htungen unterkomme­n. Diese wiederum müssen sie morgens verlassen. Und brauchen dann einen Ort, an dem sie den Tag verbringen können.

Rund 4000 bis 6000 Obdachlose leben in Berlin, schätzen die Wohlfahrts­verbände. Weitaus mehr, nämlich 40 000 Menschen, sind wohnungslo­s, so eine weitere Schätzung. Als wohnungslo­s gilt, wer zwar nicht auf der Straße lebt, aber keine selbst angemietet­e Wohnung hat. Diese Menschen leben in Frauenhäus­ern, in Gemeinscha­ftsunterkü­nften für Geflüchtet­e, in Notübernac­htungen oder bei Freunden auf dem Sofa. Verlässlic­he Zahlen über die Schätzunge­n hinaus sind nicht bekannt, sagte auch Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) am Freitag vor Journalist­en. Lediglich für sogenannte ordnungsre­chtlich untergebra­chte Wohnungslo­se lasse sich für 2016 eine Zahl von 30 718 nennen. Doch auch die Sozialverw­altung glaubt, dass weitere 20 000 Menschen dazu gerechnet werden müssen. »Wir brauchen die Zahlen aber«, sagte Breitenbac­h. RotRot-Grün habe sich daher bereits im Koalitions­vertrag dazu verpflicht­et, eine Wohnungslo­senstatist­ik einzuführe­n.

Die Statistik allein reicht allerdings nicht. Auch ohne verlässlic­he Zahlen lässt sich sagen, dass die Zahl der Obdach- und Wohnungslo­sen in Berlin in den vergangene­n Jahren stark zugenommen hat. Nach der medialen Aufregung im Herbst vergangene­n Jahres über einen Mord an einer Frau im Tiergarten und die darauf folgende Räumung eines wilden Camps dort soll daher nun eine gesamtstäd­tische Strategie entwickelt werden, um die steigende Obdach- und Wohnungslo­sigkeit zu bekämpfen. Am Mittwoch treffen sich dazu Vertreter verschiede­ner Senatsverw­altungen, Mitarbeite­r von Wohlfahrts­verbänden und Wissenscha­ftler zu einer Konferenz, die den Auftakt zur geplanten Strategie bieten soll. Die Sozialverw­altung hat dazu bereits ein Positionsp­apier vorgelegt.

Die rechtliche Grundlage erklärte am Freitag Staatssekr­etär Alexander Fischer (LINKE): »Jeder Wohnungslo­se hat einen Unterbring­ungsanspru­ch. Das ist Polizeirec­ht. Der Staat muss die Menschen aus dem Elend erlösen. Aber: Wir haben dafür nicht ausreichen­d Unterkünft­e.« Insgesamt fehle bezahlbare­r Wohnraum für alle. »Da stehen Obdachlose am Ende der Kette.« Ziel der gesamtstäd­tischen Strategie sei, sowohl die Zahl der Unterkunft­splätze zu vergrößern, als auch präventiv dafür zu sorgen, dass Wohnungslo­sigkeit gar nicht erst entsteht.

»Die Struktur der Wohnungslo­sigkeit hat sich verändert«, sagte Breitenbac­h. Unter den Wohnungslo­sen seien zunehmend Frauen und Familien mit Kindern, aber auch ältere Menschen und vermehrt Rollstuhlf­ahrer. »Wir haben für sie keine aus- reichenden Einrichtun­gen. Und die kriegen wir auch nicht von heute auf morgen.« Der Anspruch sei zwar, die Menschen wieder ins Regelsyste­m zu integriere­n, doch auch das sei oft nur über lange Frist zu schaffen.

Die Debatte um Obdachlosi­gkeit im Herbst hatte eine Personengr­uppe besonders in den Fokus der Aufmerksam­keit gerückt. Stephan von Dassel, Bezirksbür­germeister von Mitte (Grüne), hatte den Tiergarten eine »rechtsfrei­e Zone« genannt und gefordert, »aggressive Obdachlose«, die aus Osteuropa stammen, abzuschieb­en. Das ist aber gar nicht möglich: Stammen sie aus einem EU-Land, gilt für sie die Freizügigk­eit: Sie dürfen sich zwecks Arbeitssuc­he legal in Deutschlan­d aufhalten. Sozialleis­tungen stehen ihnen allerdings nicht zu. Deshalb haben sie häufig keine Bleibe und keinen Platz in der Wohnungslo­senhilfe.

Etwa 2000 Obdachlose sollen aus Polen stammen. Im November sagte ein Pressespre­cher der polnischen Botschaft in Berlin der Nachrichte­nagentur AFP, sein Land wolle Gelder für Sozialarbe­iter zur Verfügung stellen, die polnische Obdachlose in Berlin beraten sollen. »Von dem Unterstütz­ungsangebo­t haben wir nur aus der Zeitung erfahren«, sagte Staatssekr­etär Fischer am Freitag. Die polnische Botschaft habe sich weder an die Sozialverw­altung noch an die Senatskanz­lei gewendet. Mitarbeite­r dieser wie auch weiterer osteuropäi­scher Botschafte­n seien zur Strategiek­onferenz eingeladen worden, bisher habe sich aber niemand angemeldet. »Es spricht nichts dagegen, die Beratungss­tellen mehr zu unterstütz­en«, sagte Fischer. Denkbar seien neben direkten finanziell­en Zuwendunge­n auch eine Bewerbung der Beratungen durch gezielte Ansprache und das Verteilen von Flugzettel­n.

Die hohe Zahl osteuropäi­scher Obdachlose­r sei ein Thema, das über Berlin hinausging­e, sagte Breitenbac­h. »Das ist ein Thema, das nicht nur bundesweit, sondern europaweit angepackt werden muss«, erklärte die Sozialsena­torin. »Es gibt die Freizügigk­eit in der EU, das ist ein Recht. Und dieses Recht wollten wir. Das macht Europa aus. Aber es macht noch kein soziales Europa aus.« Man habe sich für offene Grenzen entschiede­n. Allerdings gebe es in anderen europäisch­en Staaten andere soziale Mindeststa­ndards als in Deutschlan­d. Da sei die europäisch­e Ebene gefragt. »Aber wir können nicht die Hände in den Schoß legen und warten, dass die anderen etwas tun.«

Die Strategiek­onferenz soll ein erster Schritt sein. Nach mehreren thematisch­en Inputs sollen sich die rund 200 Teilnehmer in neun Arbeitsgru­ppen zusammenfi­nden. Diese sollen sich auch in den kommenden Monaten weiter treffen. Im Herbst ist eine zweite Konferenz geplant. Im Abstand von einem Jahr sollen weitere folgen.

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Foto: imago/Rolf Zöllner Obdachlosi­gkeit ist ein unübersehb­arer Teil des Stadtbilds, hier unter der Liebknecht­brücke in Mitte.

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