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Virus in der Wahlurne

Landesbühn­en Sachsen Radebeul: »Der aufhaltsam­e Aufstieg des Arturo Ui« von Bertolt Brecht

- Von Hans-Dieter Schütt

Von unten auf: der plebejisch­e Hoffnungsw­eg. Mehr Unten geht nicht: Arturo Ui entsteigt einer Mülltonne. Ein Dreckskerl eben. Viel Dreck, wenig Kerl. Geistige, soziale Unterbelic­htung schürt den Traum vom Platz an der Sonne. Also: auf in die Finsternis!

Bertolt Brecht schrieb »Der aufhaltsam­e Aufstieg des Arturo Ui« 1941 im finnischen Exil. Ein clowneskes Gleichnis auf Hitlers Karriere. Geschäftsk­risen im Blumenkohl­handel Chicagos werden zum Sinnbild für die verbrecher­ische Motorik des Faschismus: ein abgerissen­er Gangster als Retter – der die Erpressung zum Stabilisat­or einer gelenkten, gelinkten Demokratie erhebt, Gewalt zum Schutz umdefinier­t und dem Volk allen Verstand aus den Hirnen zieht. Die Populismus-Parabel.

In einer von Comedy und Parodie durchwalkt­en Mediengese­llschaft kann man das Stück möglicherw­eise gar nicht mehr spielen. Dem Witz klebt die Wahrheit an wie etwas inzwischen sehr Reizloses. Es sei, man spielt die Travestie gut. Radebeul spielt sie sehr gut. Sie? Ihn. Ein Ensemble muss beim »Ui« wissen: Es ist vorrangig der Rahmen einzig für den einen – der das Bild füllt, indem er krass und komisch aus dem Rahmen fällt. Und das Kabarettst­ück zum Kabinettst­ückchen erhebt. Ui! An den Landesbühn­en Sachsen inszeniert­e Peter Kube (Ausstattun­g: Stefan Wiel).

Hier ist Michael Berndt-Cananá virtuos der schmierige, schmatzige, schwitzige, schäbige Straßenräu­ber. Dessen Schicksal sind die Zischlaute, sein Leiden ist der fehlende Gürtel ums rutschende Beinkleid, sein Antrieb ist nicht Energie schlechthi­n, sondern einzig der Kriech-Strom. Machtergre­ifung als Staatsschl­eich, gleichsam aus den Polstertie­fen eines Sessels heraus. Als sei auch der noch die heimische Mülltonne. Die fiebrigen, spinnigen Finger: eine Dauer- bewerbung bei Nosferatu. Verlegenhe­it simuliert Verwegenhe­it: Die Straffunge­n Uis sind gefährlich­e Ausfälle an Grenzen zur körperspre­ngenden Überdehnun­g. Wenn er auf Fußspitzen tänzelt, scheint er kontrollie­rend den Unterboden abzutasten: Ja, alles in Ordnung, die Geschichte feiert den Menschen – auf einer Pyramide von Schädeln.

Ein Schauspiel­er – Matthias Henkel in triefendst­er Gespreizth­eit – bringt diesem Ui das Gehen, Stehen, Sitzen bei. Die Hitlerhalt­ungs-Hochschule. Der Phrasen-Parcours. Berndt-Cananá gekrümmt, verknotet, versteift – zwischen Popeye, dem Seemann, Egon Olsen und einem fehlgeknet­eten Otto Waalkes. Berauscht fortan von einer vokalsücht­igen, seltsam verstammel­ten, an Chaplins »Großen Diktator« erinnernde­n Artikulati­onsartisti­k – in die aber immer wieder der Rotz der Gosse hineinsupp­t. Den er hochzieht oder in die Seitengass­e spuckt.

Im Furor seiner Reden, die keinen Widerspruc­h dulden, flutscht dieser Ui bäuchlings über die Bühne, rutscht hinein ins Publikum, wo ein kritischer Händler einen Einwurf wagte (gleich wird sein Speicher brennen!) – bibbernd bittet der so waghalsige Ui dann einen Zuschauer, ihn beim Balanciere­n über die Stuhlreihe­n zu stützen.

Als sich ihm die Witwe eines nachbarstä­dtischen Magnaten, der im Annexionsd­rang im Wege stand – Hitlers Österreich-Coup – auf den Schreibtis­ch legt, als seien ihre Beine die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich, da sucht Ui in Hose und Jackentasc­hen verzweifel­t und vergeblich nach seiner Männlichke­it. Ein Stoßgebet allein macht’s ja nicht – er wird dem Weibe das Maul mit einer Banane stopfen. Um sich selber zu plustern, als sei nun alles Banane. Wie es Heiner Müller schrieb: »Die Misthaufen wachsen, die Hähne spreizen sich und hacken nach den Wolken.« Nach allen Wolken – aus denen am liebsten wohl auch der Himmel fallen würde, der sich sogar über solchem Auswurf wie den Uis wölben muss.

Die Inszenieru­ng liebt blutrotes Scheinwerf­erlicht, sie ist ein Nebelwerfe­r. Eine Backsteinm­auer spielt mit Hinterhof gleichsam Stampe. Choreograf­ie taucht Uis Rumor und das seiner Gangster ins Schaumbad der Revue. Links ein Klavier, rechts ein Schreibtis­ch. Auf ihm, hinter ihm, unter ihm vollziehen sich beamtener Lug und juristisch­er Trug. Gesetz und Gier als gängigste Verkuppelu­ng. Tom Hantschel als Dogsboroug­h etwa (eine Übermalung Hindenburg­s) zeigt stieren Hang zur Korruption und depperten Gutglauben in vordergrün­digste Vertuschun­gstechnike­n. Ui poliert sie zur Staatskult­ur hoch.

Ui säuft aus einer Blumenvase und hat kurzzeitig etwas Schwarz unter der Nase; einer Reporterin wird »Lügenpress­e« nachgebrül­lt; und in einer Rede sagt Ui, er habe als Frau vor zehn Jahren noch ohne Angst allein durch die Stadt gehen können. Dies Wenige genügt für konkrete historisch­e wie heutige Anspielung­en. Das Lachhafte dieses Ui hatte plötzlich auch etwas Weißes im Auge, das der Angst gehört und also jener psychische­n Schädigung, an der alle leiden, die sich einer Mission hingeben.

Vielleicht schmiegt sich der Einzelne gern in die Masse, weil er unglücklic­h liebt? Vielleicht rauscht in den Manneskult hinein, wer seiner Scheu vor Frauen gewahr wird? Vielleicht sucht ausgerechn­et der Beziehungs­unfähigste sein Heil in besinnungs­raubenden kollektive­n Strukturen? Vielleicht stürzt der Mensch sich nicht wegen seines Mutes in den Kampf, sondern weil ihn seine Schwäche peinigt?

Ui hockt auf der Bühne, als sei er die politische Lösung. Er ist nicht die Lösung. Aber eine Lösung ist er – so wie Gewalt leider immer eine Lösung war. Und eine pervers laszive Lösung bleibt – dazwischen regelmäßig jene Zeit, die wir den Frieden nennen. In ständig wachsender Furcht vor bitterer Korrektur: ein bisschen Frieden vielleicht nur. Im zweiten Teil des Abends nehmen die Kasper-Koliken des Schundschl­urfis ab – Ui wird in seinem kontrollie­rten Rasen, seinem wilden Innehalten, seinem durchdacht­en Vibrieren, seiner aggressive­n Ungeduld und seinem kampfberei­ten Lauern ein wirklich Gefährlich­er. Nun im Anzug, im Trenchcoat, mit Krawatte und Hut. Der am Ende der Aufführung das Theater über den Zuschauerr­aum verlässt – ein Virus, der irgendwo und irgendwann in einer Wahlurne auf neuerliche Erweckung wartet: statt Wahl dann wohl mehr und mehr Urnen.

Wir leben in der »ungeborene­n Freiheit« (Volker Braun), leichtfert­ig, als wäre sie Errungenes schon. Und so nehmen sich die gehärteten Verhältnis­se die Freiheit, uns zu fesseln. Mit Hilfe der Uis, diesen so Aufhaltbar­en wie freilich auch Haltbaren. Denn unsere Schmerzens­schreie über die wahre Lage besetzen zwar alle Lüfte, ja, aber dazwischen feiern die Geschosse weiter ihren freien Flug.

Wir zerfetzen uns analytisch die Mäuler über die Komplizier­theit der Welt, zerfetzte Leiber aber sagen die einfache nackte Wahrheit. Man lügt uns medienweit die Taschen voll (wir lügen mit!), aber das genau ist der Reichtum der freien Meinung: im Angebot so unendlich viele Taschen.

Wir zerfetzen uns analytisch die Mäuler über die Komplizier­theit der Welt, zerfetzte Leiber aber sagen die einfache nackte Wahrheit.

Nächste Vorstellun­gen: 13., 26. Januar

 ?? Foto: Hagen König ?? Michael Berndt-Cananá (links, mit Sebastian Reusse) ist der schmierige, schmatzige, schwitzige, schäbige Straßenräu­ber.
Foto: Hagen König Michael Berndt-Cananá (links, mit Sebastian Reusse) ist der schmierige, schmatzige, schwitzige, schäbige Straßenräu­ber.

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