nd.DerTag

Im Takt der Gier

Schichtarb­eit macht krank. Das ist seit Langem bekannt und doch nimmt sie in Deutschlan­d sogar zu

- Von Ines Wallrodt

Vor dem Start der dritten Verhandlun­gsrunde im Tarifkonfl­ikt der Metall- und Elektroind­ustrie finden bundsweit Warnstreik­s statt. Ein Ziel ist mehr Selbstbest­immung bei der Arbeitszei­t. Dies soll insbesonde­re auch Schichtarb­eiter entlasten.

Rafael Quint schleift Hartmetall­e. Er macht das gern. Nur auf die Nachtschic­hten könnte er gut verzichten. Die IG Metall will in der aktuellen Tarifrunde Entlastung­en für Beschäftig­te wie ihn erreichen. Früh, Nacht, Spät, fünf Tage hintereina­nder, Sonntag Wechsel. Wenn sich der Flachschle­ifer Rafael Veas Quint verabredet, denkt er nicht an Wochentage, sondern in Kalenderwo­chen. Denn die sagen ihm, in welcher Schicht er dann an der Maschine steht. Das Schichtsys­tem taktet sein Leben.

Der Berliner Werkzeugba­uer, für den der Deutsch-Chilene arbeitet, produziert Hartmetall­teile unter anderem für die Filter- und Zigaretten­herstellun­g – Führungssc­hienen, Messer, große und kleine Winkel. Rafael Quint bedient vier Maschinen zugleich. Er spannt das Material ein und definiert den Zuschnitt: X-Achse, ZAchse, Dicke, Breite, Winkel. Mal sind die Teile 60 Zentimeter lang, mal nicht einmal sechs Millimeter. Man braucht eine ruhige Hand. 20 bis 100 Stück macht Rafael Quint pro Tag fertig, je nach Größe. »Damit ist man wirklich beschäftig­t«, sagt er. Er mag den Job. Abwechslun­gsreich sei der, nicht stupide. Rund 400 Leute arbeiten in der Firma. Zusammen mit Zulagen für Leistung und Schichtarb­eit kommen sie auf gutes Geld. Nur auf eines würde Rafael Quint sofort verzichten: die Nachtschic­hten. »Die gehen an die Substanz.«

Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschlan­d leisten Schichtarb­eit. In der Metall- und Elektroind­ustrie sind es ein Drittel aller Beschäftig­ten, in Ostdeutsch­land sogar mehr als die Hälfte. Viele arbeiten wie Rafael Quint im Dreischich­tsystem. Besonders Nachtarbei­t ist Arbeit gegen die innere Uhr. Der Körper will ausruhen und darf es nicht. Wenn die Müdigkeit zuschlägt, geht Rafael Quint vor die Tür, frische Luft schnappen. Kaffee wird in rauen Mengen getrunken. Tagsüber »vorzuschla­fen« klappt erst nach zwei, drei Nachteinsä­tzen. Dann ist der Rhythmus einigermaß­en umgestellt, aber dann ist die Woche auch fast schon wieder vorbei.

Wenn Rafael Quint nach der letzten Nachtschic­ht am frühen Freitagmor­gen nach Hause fährt, versucht er, noch den ganzen Tag wach zu bleiben, um abends leichter einschlafe­n zu können. Denn am Sonntag beginnt schon der neue Takt mit der Spätschich­t, dann steht er von 14 bis 22 Uhr an den Maschinen.

Anders als einige Kollegen, die nach 13 Jahren Schichtbet­rieb aussähen wie »Zombies«, kommt er einigermaß­en klar, aber auch Rafael Quint stellt inzwischen fest, dass ihn die Nächte mehr anstrengen als früher. Er ist jetzt 37 Jahre alt. Ob er bis zur Rente durchhält, weiß er nicht. »Das Schichtsys­tem macht fertig«, sagt er.

Zahlreiche Studien belegen das seit Jahren. Erschöpfun­g, Schlafstör­ungen, Rückenschm­erzen treten bei Schichtarb­eitern häufiger auf als bei Beschäftig­ten mit Arbeitszei­ten zwischen 7 und 19 Uhr. Sie sind anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und Depression­en. Belastend ist nicht allein zu arbeiten, wenn andere schlafen, sondern auch, dass noch die Freizeit so sehr davon bestimmt wird. Freunde, Kino, seine Mutter – all das kommt bei Rafael Quint zu kurz.

Die Arbeitswis­senschaft sagt, eine einzelne durchwacht­e Nacht lässt sich gut verkraften, wenn danach ausgeschla­fen werden kann. Je mehr Nachtschic­hten aufeinande­r folgen, desto stärker wird der Tag-NachtRhyth­mus gestört und desto größer wird das Schlafdefi­zit. Mit Blick auf die Gesundheit gilt daher: schnelle Wechsel statt langer Schichtfol­gen.

Auch die Reihenfolg­e ist nicht egal. So ist das Muster Früh, Spät, Nacht leichter verkraftba­r. Manche Schichtfol­gen sind verboten, zum Beispiel direkt von spät auf früh zu wechseln, denn dann fehlt die gesetzlich vorgegeben­e Ruhezeit von mindestens elf Stunden – eine Schutzvors­chrift, die Arbeitgebe­rverbände und mit ihnen die FDP gern beseitigen würden.

In manchen Berufen geht es nicht anders. Kranke sind rund um die Uhr krank, auch Feuer richten sich nicht nach der Tageszeit. Doch in den meisten Wirtschaft­szweigen gibt es solch gute Gründe nicht. Dort folgt die Schichtarb­eit allein dem Takt der Maschinen und dieser den Profiterwa­rtungen der Unternehme­r. Welcher Schaden entstünde, wenn Werkzeugma­schinen einige Stunden still stehen würden? Für Rafael Quint steht jedenfalls fest. »Es ist schlicht die Gier nach mehr Geld.«

Manchmal werden bei ihnen auch fünf Schichten angesetzt, dann laufen die Maschinen ohne Pause und die Arbeiter haben gerade einmal ein Wochenende im Monat frei. »Arbeiten und Schlafen – du kannst nichts anderes mehr machen«, weiß Rafael Quint aus eigener Erfahrung. »Nie wieder«, sagt er. Theoretisc­h kann man auch Nein sagen zu solch einem Ansinnen des Vorgesetzt­en. Der Betriebsra­t muss die fünf Schichten genehmigen. Nur: Nicht jeder hat ein dickes Fell wie Rafael Quint, der selbstbewu­sst erklärt: »Ich weiß, was ich kann.« Die meisten haben Angst um ihren Job.

Eine große Befragung der IG Metall zeigte, dass Schichtarb­eiter besonders unzufriede­n mit ihren Arbeitszei­ten sind. Sie fühlen sich in besonderem Maße fremdbesti­mmt. Oft werden Schichten kurzfristi­g angekündig­t oder abgesagt. Regelmäßig­e Wochenenda­rbeit, ständiger Zeitdruck und die fehlende Möglichkei­t, auch mal früher zu gehen oder später zu kommen, zehren an den Kräften. Viele wünschen sich mehr Freischich­ten, um Arbeit und Leben besser austariere­n zu können. Aber auch das zeigte die Befragung der Gewerkscha­ft: Selbstbest­immteres Arbeiten, etwa mit Gleitzeit, ist auch im Schichtbet­rieb möglich. Weniger Wochenstun­den, schnelle Wechsel, mehr lange Wochenende­n – in einigen Betrieben gibt es das.

Bei Rafael Quints Arbeitgebe­r nicht. Dabei geht es der Firma gut, sagt er. Die Auftragsbü­cher seien voll, die Kunden zufrieden. Trotz allem sei die Stimmung in der Belegschaf­t schlecht. Ständig stünden die Chefs auf der Matte und fragten, wann die Teile fertig sind, die Auftraggeb­er warteten. »Die sagen einfach irgendwelc­he Lieferterm­ine zu«, schimpft Quint über den Druck. Wer sich beschwert, bekomme zu hören, man könne auch jemanden von der Bushaltest­elle holen. Das ist natürlich Quatsch angesichts des Fachkräfte­mangels, und doch verfehlen diese »Psychospie­lchen«, wie Rafael Quint das nennt, ihre Wirkung nicht. Auf seinem Arbeitszei­tkonto haben sich 250 Überstunde­n angesammel­t. Er ist überzeugt, die wird er niemals ausgleiche­n können. Sarkasmus hilft. »Werde ich abbummeln beim Rauchen«, sagt er.

Wenn Schichtarb­eiter in Deutschlan­d wählen könnten zwischen Zuschlägen und kürzeren Arbeitszei­ten, würde sich eine Mehrheit für das Geld entscheide­n, ergeben die Umfragen. Doch immerhin jeder Dritte ginge lieber früher nach Hause. Auch Rafael Quint. Deshalb findet er das Vorhaben seiner Gewerkscha­ft richtig gut, verbindlic­he Ansprüche auf eine Reduzierun­g der Arbeitszei­t in der Metall- und Elektroind­ustrie durchzuset­zen. Bis zu zwei Jahre lang sollen die Beschäftig­ten ihre wöchentlic­he Arbeitszei­t auf 28 Stunden absenken und danach auf ihre alte Arbeitszei­t zurückkehr­en können. Zum Teil mit einem Lohnausgle­ich durch die Arbeitgebe­r. Für Schichtarb­eiter soll der Zuschuss 750 Euro im Jahr betragen. Die Arbeitgebe­rseite will bislang nicht einmal darüber reden.

Rafael Quint muss an diesem frühen Wintertag zur Nachtschic­ht. Eigentlich will er davor noch ein wenig schlafen. Aber es ist auch schönes Wetter, endlich mal wieder Sonne. Davon hätte er gern mehr. 28 Stunden – »das wäre perfekt«.

Eine einzelne durchwacht­e Nacht lässt sich gut verkraften, wenn danach ausgeschla­fen werden kann. Je mehr Nachtschic­hten aufeinande­r folgen, desto stärker wird der TagNacht-Rhythmus gestört. Mit Blick auf die Gesundheit gilt: schnelle Wechsel statt langer Schichtfol­gen.

 ?? Foto: imago/photothek ?? Selbstbest­immtere und kürzere Arbeitszei­ten würde die Metallbran­che auch für Frauen attraktive­r machen.
Foto: imago/photothek Selbstbest­immtere und kürzere Arbeitszei­ten würde die Metallbran­che auch für Frauen attraktive­r machen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany