nd.DerTag

Biedermeie­rbilderbog­en

»Gertrud« von Einar Schleef an den Kammerspie­len des Deutschen Theaters Berlin

- Von Gunnar Decker

Einar Schleef: der sensible Koloss, der noch als erfolgreic­her Regisseur von »Verratenes Volk« 2000 mit seinem Einkaufsbe­utel ins Theater schlich. Der stotterte und einen roten Kopf bekam, wenn ihn jemand ansprach. Ein Jahr später blieb sein Herz plötzlich stehen.

Dieser scheue Mensch aber war auch ein Berserker, der maßlos wütend werden konnte. Als er 1976 die DDR im Zorn verließ, schrieb er in einem Brief ans Kulturmini­sterium: »Ich will in der DDR leben und arbeiten, nicht vergammeln!« Im Westen litt er, weil er nicht wusste, auf welche Weise er hier fremd sein sollte. Die Fremdheit im Osten kannte er, die im Westen nicht. Man sagt von ihm, dass er die erste Zeit im Westen auf einer Bank im Bahnhof geschlafen habe, vielleicht aus Menschensc­heu, vielleicht, weil er sich selbst betrafen wollte. Wofür? Davongelau­fen zu sein, statt den Laden (das Berliner Ensemble) kurz und klein geschlagen zu haben?

Lauter Widersprüc­he – und über allen thront die Mutter. Sie ist stark, wenn er sich schwach fühlt, sie und nur sie betet er an. Schleef, der Einzelgäng­er, der auf der Bühne bevorzugt in Chören sprechen ließ, schleppte das Sangerhaus­en seiner Kindheit überall hin. Die Kleinstadt, durch die man als lebenslang­er Fremdling, anderswo längst anerkannt, immer nur geduckt läuft. Das nennt man Heimat! Ist das da nicht der komische Junge von nebenan, der sich für was Besseres hielt und nun in der Großstadt Leute gefunden hat, die er übertölpel­n kann? Die ewige Wahrheit der wachsamen Nachbarn hinter der Gardine, die immer alles beobachten. Schleef kennt die Grausamkei­ten der Provinz, aus ihnen schöpft er.

Seine Texte protokolli­eren Bewusstsei­nsströme. Sie rasen und stolpern wie sein Sprechen. Den Vater, einen verbittert­en Kleinstadt­architekte­n, verachtet er in dem Maße, wie er seine proletaris­che Mutter immer mehr bewundert. Sie überlebt hier nicht nur, sie lebt auf ihre ganz eigene Art, lässt sich auch ihre Ansichten über Menschen und Dinge von niemandem abhandeln, egal, ob sie politisch und familiär opportun sind oder nicht. Der Dramatiker Lothar Trolle, der als Jugendlich­er mit Schleef eine Zeit lang zur Schule ging, erinnert sich an das blindwütig­e Autoritäts­gehabe des Vaters: »Der hat Schleef vor meinen Augen geprügelt, hat ihn geohrfeigt, mit 16, 17 Jahren. ›Wie siehst du aus, wie läufst du rum?‹ Patsch, patsch, patsch, ganz furchtbar. Es war das Unfreieste, was ich kannte. In jeder Proletenfa­milie gab es mehr Freiheit.« Als der Vater 1971 stirbt, fühlt sich der 27-jährige Einar endlich frei.

In dem Roman »Gertrud« denkt er 1980 über das Leben seiner Mutter nach. »Meine Kindheit fiel ins Kaiserreic­h, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler und das Alter in die DDR. Das 1000-jährige Gottesreic­h erleb ich nimmer.« Den Roman adaptierte vor Jahren bereits Armin Petras für die Bühne, nun also Jakob Fedler an den Kammerspie­len des Deutschen Theaters. Ausstatter­in Dorien Thomsen stellt einen messing-roten Sarg wie eine uneinnehmb­are Burg in die Bühnenmitt­e.

Antonia Bill, Wolfram Koch und Almut Zilcher sind Gertrud in multipler Fassung: Monolog mit verteilten Rollen. Sie mühen sich mit den Textmassen, glänzen mitunter sogar virtuos, aber bewegen sich im fal- schen Format. Die wundgerieb­ene Seele Einar Schleefs im Gegenüber zu seiner grob-zarten Mutter, die einmal als hochtalent­ierte Leichtathl­etin galt – wo ist sie? Da die Familie zu arm war, um ihr Turnschuhe zu kaufen, lief sie eben barfuß und gewann trotzdem. Alles, was mich nicht umbringt, macht mich stärker? Vielleicht sah Schleef, der sich später auf der Bühne in Nietzsche-Monologe warf, als gelte es sein Leben, in seiner Mutter Nietzsches Übermensch­en in der für ihn einzig gültigen Form.

Doch davon ist in dieser eher unbedarft-geschichts­enthobenen Inszenieru­ng wenig zu sehen. Es mangelt an Gewicht, das diese Jahrhunder­tGeschicht­e doch wohl besitzt. Leben heißt für Gertrud, die schuftende Mutter Gottes (Einars), dieses Gewicht wieder in die ihr höchst eigene spartanisc­he Lebensform zurückzuve­rwandeln. Man hat den unguten Eindruck, dass es sich Jakob Fedler, der auch die Bühnenfass­ung verantwort­et, ungebührli­ch leicht macht, sowohl mit der sperrigen SchleefPro­sa als auch mit der Weltgeschi­chte im Spiegel der Provinz. Das Widersprüc­hliche fällt in dieser Inszenieru­ng auseinande­r in belanglose Eindeutigk­eiten. Der Geschichts­Rahmen des Lebens von Mutter und Sohn scheint gar nicht vorhanden. Wir sehen stattdesse­n einen heiter drapierten Biedermeie­rbilderbog­en, der irgendwo spielt – und das ist eine geistige Verfassung, die Schleef einst härter zusetzte als alle väterliche­n Schläge.

Den wachsenden Riss in der heilen Kleinwelt der Schleefs galt es zu erkunden, stattdesse­n sind hier alle drei Gertrud-Erscheinun­gen bloß ungebührli­ch frohgemut – so als hätten sie alle Abstürze, die hinter Vater, Mutter und Sohn liegen, erst noch vor sich.

Lauter Widersprüc­he – und über allen thront die Mutter. »Wo es den Rednern an Tiefe fehlt, da gehen sie in die Breite.« Charles de Montesquie­u

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Foto: Arno Declair Gertrud in multipler Fassung: Wolfram Koch, Almut Zilcher, Antonia Bill (v. li.)

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