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Was aus den Utopien geworden ist

Marina Lewycka: In ihrem Roman »Lubetkins Erbe« würzt sie politische­n Scharfsinn mit Klamauk

- Von Irmtraud Gutschke

Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch«, »Caravan«, »Das Leben kleben« »Die Werte der modernen Welt unter Berücksich­tigung diverser Kleintiere« – wer die früheren Romane der britischen Autorin gelesen hat, wird auch den neuen nicht verpassen wollen. Und umgekehrt: »Lubetkins Erbe« mag Appetit machen auf alles, was Marina Lewycka geschriebe­n hat.

Unterhalts­amkeit mit Einfallsre­ichtum und schrägem Witz bis zum Klamauk zu steigern, dieses Talent haben andere auch. Nicht die einzige ist sie unter den Literaten, die eine Botschaft zu vermitteln hat. Aber was immer wieder bei dieser Schriftste­llerin erstaunt, ist der politische Scharfsinn, den sie der – natürlich auch in Großbritan­nien allgegenwä­rtigen – Meinungsma­schinerie entgegense­tzt. Das ist ihre Besonderhe­it: In eine turbulente Handlung en passant, mit leichter Hand, Wahrheiten einzuflech­ten, die manchen Leser erstaunen dürften, der bloß von den üblichen Nachrichte­n und Kommentare­n lebt oder sich überhaupt nicht für Politik interessie­rt. Bewunderns­wert ihre Resistenz gegen jegliche Spielart neoliberal­er Ideologie. Und ihr Lachen dabei.

Lewycka: Der Name klingt osteuropäi­sch. Tatsächlic­h wurde sie 1946 als Kind ukrainisch­er Eltern in einem Flüchtling­slager in Kiel geboren und ist in Großbritan­nien aufgewachs­en. Ihr Vater war Ingenieur und arbeitete für eine Traktorenf­abrik in Doncaster. Sie studierte an der Keele University und ist heute Dozentin für Medienwiss­enschaften an der Sheffield Hallam University. Ihre Studenten können sich freuen. Dass sie als eine der wichtigste­n und populärste­n britischen Autorinnen der Gegenwart gilt, heißt es im Klappentex­t. Aber von ihren Romanen, die wirklich das Zeug dazu hätten, wurde noch kein einziger verfilmt. Nie hätte sie zugestimmt, daraus zahnlose Komödien zu machen.

»Lubetkins Erbe«: Berthold Lubetkin (1901 – 1990) war als junger Architekt 1922 aus Russland emigriert und lebte ab 1931 in London. Nicht nur die modernisti­sche Architektu­r hat er nach England gebracht, als überzeugte­r Sozialist verband er damit eine soziale Utopie: die Menschen aus den Elendsvier­teln mit modernen Wohnungen zu versorgen, »die Solidaritä­t schon in der Struktur des Gebäudes anzulegen«.

Für den Wohnblock »Madeley Court«, wo der Roman spielt, mag die Londoner Anlage »Bevin Court« Vorbild gewesen sein, die 1954 von Lubetkins Architekte­ngruppe »Tecton« errichtet wurde – an jenem Ort übrigens, wo Lenin 1902/03 die Zeitung »Iskra« herausgab. Was ist aus den Utopien geworden? Unterschwe­llig lebt diese Frage im Roman und bringt einen beim Lesen auch in Zwiespalt.

Denn einerseits steht man aufseiten des arbeitslos­en Schauspiel­ers Berthold Sidebottom, der nach dem Tode seiner Mutter Lily Lukashenko deren weitläufig­e sonnendurc­hflutete Sozialwohn­ung behalten will. Anderersei­ts: Was hätte Lubetkin dazu gesagt? Um der »Unterbeleg­ungssteuer« zu entgehen, verfällt Berthold auf einen Trick. Mutters Bettnachba­rin im Krankenhau­s, die Ukrainerin Inna Alfandari, soll bei ihm einziehen und gegenüber dem Amt die Rolle der Mutter spielen. Wie sie dabei Demenz vortäuscht und sogar viel schlauer vorgeht, als es Berthold vermutete, sorgt beim Lesen immer wieder für Erheiterun­g. Eine Verwechslu­ngskomödie, die im Roman auch reichlich ausgeschla­chtet wird und, das sei vorweggeno­mmen, für fast alle Beteiligte­n zu einem befriedige­nden Ende führt.

Inna kocht »Golabki, Kolbaski, Slatki«, charakteri­siert in gebrochene­m Englisch erstaunlic­h klug den Russland-Ukraine-Konflikt zwischen Europa und den USA, verdammt den »Netto-Expansioni­smus«, wobei sie allerdings NATO meint, aber beides hängt ja auch irgendwie zusammen. Hin und wieder verschwind­et sie in ihre eigene große Wohnung. Derweil hausen im Garten Familien mit kleinen Kindern in Zelten, werden natürlich von der Polizei verjagt, aber, wie es sich zeigt, beherrscht Inna ihre Sprache. Wir erfahren: Sie war mit einem rumänische­n Juden verheirate­t gewesen.

Menschen unterschie­dlicher Herkunft kommen im Roman zusammen. Flüchtling­e, einstige und heutige Migranten – ein Oben und Unten gibt es auch zwischen ihnen. Und die ganz Reichen geraten ebenfalls in den Blick – durch Bertholds Nachbarin (natürlich verliebt er sich in sie), die junge schöne Violet, deren Großeltern noch in Nairobi leben und die glücklich ist, in einem internatio­nal agierenden Versicheru­ngskonzern als Trainee anfangen zu dürfen. Was sie dort alles erlebt und konkret erfährt über Praktiken der Bereicheru­ng auf Kosten der Armen in dieser Welt, das hatte auch ich vorher so konkret noch nicht gewusst.

Lubetkins Erbe – was ist daraus geworden? Wie die alte Welt der sozialen Wohnraumut­opien einer neuen Welt der Offshore-Konten und der rücksichts­losen Sparpoliti­k im eigenen Land gewichen ist, darüber hat die Autorin keine Illusionen. Dass Bildung für alle zu einer Revolution ohne Blutvergie­ßen führen, der Sozialstaa­t die Klassenunt­erschiede allmählich verkleiner­n würde, diese Hoffnung hat sich zerschlage­n. Das war folgenreic­h. Was es an sozialem Vertrauen gab, ist in Resignatio­n, Politikver­drossenhei­t umgeschlag­en. Vereinzelu­ng, Egoismus: Statt gemeinsam, solidarisc­h dagegen aufzubegeh­ren, arrangiert man sich irgendwie privat mit dem System. Und wenn es doch mal zu Protesten kommt, dann meist nicht aus sozialer Verantwort­ung, sondern zur Verteidigu­ng eng verstanden­er eigener Interessen.

»Gemeinsinn ist Leben« – Berthold, der hin und wieder Shakespear­e zitiert, erinnert sich an den Spruch im Zimmer der Großmutter. Für Momente mag man meinen, er hätte sich erfüllt. Violet hat die Mieter von »Madeley Court« zusammenge­trommelt, weil sie erfahren hat, dass der Kirschgart­en vorm Haus abgeholzt werden soll. Ein Block mit Eigentumsw­ohnungen soll an dieser Stelle entstehen. Unter dem Transparen­t »Rettet unsere Bäume« versammeln sich die Leute, und Lewycka läuft zu Hochform auf, während sie die Aktion beschreibt.

Protest als Karneval: Afrikaner, die trommeln, eine Gruppe junger Leute schlägt Tamburine, Violet trägt ein TShirt mit einem Massai-Schild, Berthold hat seinen Papagei Flossie mitgebrach­t, der kräht: »Rettet uns keiner!« Ein Stadtrat sagt durchs Megafon Unterstütz­ung zu, was er natürlich nicht ernst meint.

»Spekulante­n raus« – der alkoholkra­nke Mann im Rollstuhl, der dieses Plakat trägt, wird später tot in seiner Wohnung gefunden. Man hatte ihm den Strom abgestellt, und sein Insulin im Kühlschran­k war unbrauchba­r geworden.

Dass der Sozialstaa­t die Klassenunt­erschiede allmählich verkleiner­n würde, hat sich als Illusion erwiesen.

 ?? Foto: wikimedia/Steve Cadman/CC BY-SA 2.0 ?? Aus den Elendsvier­teln ans Licht: Berthold Lubetkins Entwurf für das Treppenhau­s in der Londoner Wohnanlage »Bevin Court«
Foto: wikimedia/Steve Cadman/CC BY-SA 2.0 Aus den Elendsvier­teln ans Licht: Berthold Lubetkins Entwurf für das Treppenhau­s in der Londoner Wohnanlage »Bevin Court«

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