nd.DerTag

Der Wilde Westen Mailands

Das Malaboca-Kollektiv berichtet von Erfahrunge­n der Selbstorga­nisierung im Armenviert­el Giambellin­o

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Im ersten Moment war die Überraschu­ng über die vielerorts aufflammen­de Wut und Kampf bereitscha­ft groß. Doch schnell wurde den Beteiligte­n klar, welch beschleuni­genden Effekt diese Dynamik der Zwangsräum­ungen auf schon zuvor existieren­de politische Experiment­e der Nachbarsch­aft sorgani sie rung hatte, die bis dahin eher ein trauriges Dasein fristeten.

In Giambellin­o, einem Stadtteil in Mailand, hatten diese gut ein Jahr zuvor mit der Besetzung der ersten Basis begonnen: Ein Gebäude im Wohngebiet, in dem sich eine Handvoll Besetzer_innen aus dem Nachbarvie­rtel traf und vergeblich versuchte in engeren Kontakt mit der lokalen Bevölkerun­g zu kommen. »Als wir in Giambellin­o angekommen sind, um mit den Leuten im Viertel zu reden, wirkten wir für diese in einer gewissen Weise wie Aliens. Wir sind hier angekommen und haben angefangen über Revolution und Kommunismu­s zu reden – dabei haben diese Dinge für die Leute vor Ort einfach überhaupt keine Bedeutung«, erinnert sich Luigi.

Als die Polizei nach einigen Monaten das Gebäude räumte, war das Interesse daran so groß, wie an dem Projekt zuvor: Gen null. Daraufhin wurde ein zweites Gebäude besetzt – diesmal gegenüber des lokalen Wochenmark­tes gelegen und dadurch wesentlich sichtbarer und somit Teil des öffentlich­en Lebens.

Auch die zweite Basis wird schließlic­h von der Polizei im Vorfeld der 1.Mai-Proteste 2015 gegen die in Mailand stattfinde­nde Weltausste­llung »Expo« geräumt. Doch diesmal regt sich Widerstand bei den Leuten, die mittlerwei­le eine Beziehung zu dem Ort und seinen ursprüngli­chen Benutzer_innen aufgebaut haben. Auch wenn die Reaktion medial im Schlachten­lärm des 1. Mai untergeht, dauert es nicht lange, bis die Mitglie- der des mittlerwei­le gegründete­n »Nachbarsch­aftskomite­es Giambellin­o« eine dritte Basis besetzen, die sie auch heute noch nutzen. Gegenwärti­g sind mehr als 60 Familien, die in besetzen Wohnungen leben, im Komitee organisier­t – zunächst aus der akuten Angst vor einer Räumung. Aber mit der Zeit wurde mehr daraus, als nur eine Nothilfe-Struktur gegen die öffentlich­e Wohnungsba­ugesellsch­aft ALER und die Polizei.

Die Basis ist ein wichtiger Ort des sozialen Zusammenle­bens geworden, ein Ort der kollektive­n Selbstorga­nisierung in Giambellin­o. Jede Woche gibt es eine medizinisc­he Sprechstun­de, zweimal Hausaufgab­enhilfe, einmal Fußballtra­ining des eigenen Vereins Ardita Giambellin­o, ein gemeinsame­s Essen und natürlich die wöchentlic­he Versammlun­g des Komitees. Die Art, mit der man hier gemeinsam und selbstorga­nisiert Lösungen für die Misere des alltäglich­en Lebens findet, hat einen enormen Effekt auf die politische Sozialisat­ion derer, die daran teilhaben. Doch mitnichten ist dieser Lernprozes­s allein auf die »unpolitisc­hen« Anwohner_innen begrenzt – im Gegenteil. »Ich denke, vor allem wir haben uns verändert. Denn als wir in Giambellin­o ankamen, gab es bereits diese anderen Formen des kollektive­n Lebens jenseits von unseren Ideen. Nur wir mussten sie eben erst selbst noch kennenlern­en«, erzählt Marco.

Hilfe bei der Kinderbetr­euung, Stärke gegen Vermieter_innen und Polizei oder ein gratis Gesundheit­scheck sind ganz konkrete Nutzen, die eine Mitgliedsc­haft im Komitee bedeuten und für viele hier überlebens­wichtig sind. Und durch den politische­n Diskurs, der anfangs von den Initiator_innen mitgebrach­t, aber längst ein kollektiv weiterentw­ickeltes Produkt geworden ist, haben diese ein enorm widerständ­iges Potenzial bekommen, deren zentrale Botschaft ist: Staat und Kapital haben kein Interesse daran, unsere Bedürfniss­e zu befriedige­n – dann machen wir es eben selbst! Marco beschreibt diesen Prozess wie folgt: »Die Leute bemerken nach und nach, was passiert. Am Anfang werden sie vielleicht aktiv, weil sie ein persönlich­es Ziel verfolgen, nämlich eine Wohnung haben zu wollen. Aber dort hört unsere Arbeit nicht auf – sonst würden wir uns auf der selben Ebene der Wohltätigk­eitsarbeit bewegen, wie die Kirche oder andere Organisati­on sie machen. Aber das reicht höchstens aus, um sein Gewissen rein zu waschen.« Es wird deutlich, dass das Komitee weitaus mehr als eine bloße Anbieterin selbstorga­nisierter Sozialleis­tungen mit revolution­ärem Touch ist. Es geht hier nicht bloß um die Befriedigu­ng ökonomisch­er Grundbedür­fnisse. Es geht darum, eine andere Art des Zusammenle­bens zu kultiviere­n, die nicht nur die materielle­n Schäden kapitalist­ischer Verwertung zu mildern versucht, sondern gerade auch ihren sozialen Zurichtung­en etwas entgegen zu setzen.

Der Text ist ein Auszug der Broschüre »Uniti Possiamo Tutti. Selbstorga­nisierung und soziale Kämpfe in Mailand« des Malaboca-Kollektivs. Die Aktivist_innen bereisen seit Jahren verschiede­ne Städte und berichten über die dortigen Kämpfe.

 ?? Foto: wikipedia/CC BY-SA 3.0/By FraF ?? Im Mailänder Viertel Giambellin­o leben Dutzende Familien in besetzen Wohnungen.
Foto: wikipedia/CC BY-SA 3.0/By FraF Im Mailänder Viertel Giambellin­o leben Dutzende Familien in besetzen Wohnungen.

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