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Haitis Wiederaufb­au kommt langsam voran

Die Erdbeben-Überlebend­e Nadine Cardozo-Riedl hat ihr Trauma überwunden und den Neuanfang geschafft

- Von Philipp Hedemann, Port-au-Prince

Folgen des Erdbebens am 12. Januar 2010 sind im bitterarme­n Haiti immer noch sichtbar. Es gibt auch Positivbei­spiele: Nadine CardozoRie­dl war tagelang verschütte­t, inzwischen hat sie ein neues Hotel. In Haiti ist der 12. Januar 2010 unvergesse­n. Bei einem der verheerend­sten Erbeben aller Zeiten starben rund 316 000 Menschen, Hunderttau­sende wurden verletzt, fast zwei Millionen obdachlos. Zu den Opfern des Bebens der Stärke 7,0 gehörte auch Nadine Cardozo-Riedl. 105 Stunden lag die mit einem Zahnarzt aus dem bayerische­n Bad Aibling verheirate­te Frau schwerverl­etzt unter den Trümmern ihres Luxushotel­s, dann wurde sie lebendig geborgen. Heute baut sie das »Montana«, in dem bereits US-Präsident Bill Clinton, UN-Generalsek­retär Kofi Annan, Friedensno­belpreis-Träger Desmond Tutu und Hollywood-Stars wie Brad Pitt und Angelina Jolie zu Gast waren, wieder auf. Die starke Unternehme­rin macht dem immer wieder von Naturkatas­trophen erschütter­ten ärmsten Land der westlichen Hemisphäre Mut. Ihre Kraft zeugt vom unzerstörb­aren Überlebens­willen der Haitianer.

»Höhlenfors­cherin werde ich wohl nicht mehr. Vier Tage unter der Erde haben mir für den Rest des Lebens vollkommen gereicht.« Das Beben hätte Nadine Cardozo-Riedl fast getötet, ihren Humor hat es ihr nicht nehmen können. Kerzengera­de sitzt die elegante 70-Jährige auf der Terrasse ihres Hotels und berichtet in perfektem Deutsch von jenen verhängnis­vollen Tagen, über die sie eigentlich nicht mehr sprechen wollte. »Ich bin 70 Jahre alt. Davon habe ich 105 Stunden unter den Trümmern meines Hotels verbracht. Diese vier Tage sollen nicht den Rest meines Lebens dominieren«, sagt die gebürtige Haitianeri­n, die ihren Mann bei den Olympische­n Sommerspie­len in München 1972 kennenlern­te.

»Viele lagen wie ich unter den Trümmern. Viele haben noch Schlimmere­s durchgemac­ht als ich. Ich will mich mit meiner Geschichte nicht über andere erheben«, sagt die Hotelmanag­erin. Von sich aus spricht sie nie über das Beben.

Sie schaut lieber nach vorne – und doch bestimmt die Katastroph­e vom 12. Januar 2010 seither ihr Leben. Am späten Nachmittag jenes Dienstages sitzt sie mit ihrem Generalman­ager Nicolas in ihrem Büro neben der Rezeption und bespricht die Buchungen der nächsten Wochen. Die Zahlen sind gut. Cardozo-Riedl ist zufrieden.

Dann bricht die Katastroph­e über Haiti herein. Um 16.53 Uhr verschiebe­n sich rund 25 Kilometer südwestlic­h der Hauptstadt Port-au-Prince die nordamerik­anische und die karibische Platte, lassen Hundertaus­ende Gebäude im ärmsten Karibiksta­at einstürzen, auch das »Montana«. Als Nadine Cardozo-Riedl wieder zu sich kommt, liegt sie unter einer eisernen Tür. Über sich hat die 1,75 Meter große Frau gerade einmal fünf Zentimeter Luft, darüber türmen sich die Trümmer von vier Stockwerke­n. Ein Stahlträge­r hat sich in ihr Bein gebohrt.

»Ich habe mich nur darauf konzentrie­rt, die Schmerzen irgendwie zu ertragen. So hatte ich keine Zeit, zu verzweifel­n«, erzählt Cardozo-Riedl. Sie weiß, dass es in dem von Misswirtsc­haft und Korruption niedergewi­rtschaftet­en Land kaum profession­elle Rettungskr­äfte gibt und es viele Stunden oder gar Tage dauern wird, bis internatio­nale Retter im mit dem Etikett »gescheiter­ter Staat« versehenen Haiti eintreffen werden. Für viele Verschütte­te werden sie zu spät kommen.

»Ich war und bin ein gläubiger Mensch. Aber in den Tagen unter den Trümmern habe ich mit meinem Gott gehadert. Ich habe mich gefragt: Warum lässt er so viel Leid zu?«, erinnert sich Cardozo-Riedl.

Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit das Hotel, das ihr Vater 1946 geründet hatte und das sie seit 1973 mit ihrer Schwester führt, über ihr zusammenge­brochen ist. Doch auch sie spürt ihre Kräfte nach Tagen ohne Wasser bei 30 Grad Hitze schwinden. Da hört sie plötzlich eine Stimme. Die Stimme spricht Deutsch: »Mama, bist du da unten?« Zunächst denkt die Verschütte­te, sie träume, dann erkennt sie in der Stimme ihren Sohn Silvanh.

Nach vier Tagen hat kaum noch jemand Hoffnungen, die Managerin lebendig aus den Trümmern ihrer Hotels zu bergen, doch ihr damals 30- jähriger Sohn gibt nicht auf, kriecht immer wieder in die Spalten zwischen den eingestürz­ten Mauern und Decken, geht die Trümmer mit den Rettungskr­äften und Suchhunden ab. Als er schließlic­h ein Lebenszeic­hen seiner Mutter hört, arbeitet er sich mit den Rettern Zentimeter für Zentimeter vor. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Als Bergungssp­ezialist Edgar aus Peru von der internatio­nalen Rettungsor­ganisation »Bomberos Unidos sin Fronteras« schließlic­h als Erster zur Verschütte­ten vordringt, beginnt er verzückt Psalmen aufzusagen und möchte mit ihr beten. Doch Cardozo-Riedl raunzt ihn an: »Gib mir erst mal was zu trinken! Meinem Gott kann ich auch noch später danken.« Der eiserne Wille der schwerverl­etzten und dehydriert­en Frau beeindruck­t den frommen Ret- ter. Seine erste Tochter wird er später Nadine nennen.

Die Bilder von Cardozo-Riedls Rettung gehen vier Tage nach der Katastroph­e als Zeichen der Hoffnung um die Welt. Die Hotelbesit­zerin erfährt, dass unter den Trümmern ihrer 142 Zimmer und 42 Appartemen­ts 85 weitere Menschen gestorben sind. Viele der Toten kannte sie persönlich. Unter ihnen sind Familienan­gehörige, Freunde aus Deutschlan­d, Gäste und viele langjährig­e Angestellt­e.

Nadine Cardozo-Riedl hätte von dem Ort, an dem sie so viele geliebte Menschen verlor und an dem ihr Lebenswerk in Sekunden zerstört wurde, fliehen können. Sie hätte mit ihrem Mann ins beschaulic­he Bad Aibling ziehen und das katastroph­engeplagte Haiti für immer hinter sich lassen können. Es kam ihr nie in den Sinn. »Nach dem Beben haben viele Menschen nicht geklagt. Stattdesse­n sagten sie: ›Wir müssen dankbar sein, dass wir überlebt haben‹«, berichtet die Grande Dame des »Montana«, die sich nach den Tagen unter den Trümmern von einem Spezialist­en der Münchner Trauma-Ambulanz behandeln lässt.

Die Trauer erscheint übermächti­g – bis Cardozo-Riedl beschließt, noch einmal ganz von vorne anzufangen. »Aufgeben liegt nicht in der Natur der Haitianer. Wir haben schon so viele Unglücke erlebt. Aus jeder sind wir gestärkt hervorgega­ngen«, sagt die Haitianeri­n. Zusammen mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Garthe entscheide­t sie sich, das Hotel wiederaufz­ubauen. Die harte Arbeit wird für die zähe Frau, die sich nach dem Beben neun komplizier­ten Operatione­n unterziehe­n musste, zur besten Medizin.

Nachdem 12 000 Lastwagenl­adungen Trümmer abtranspor­tiert worden sind, eröffnen die Schwestern das Hotel mit zunächst 15 Zimmern neu. Nur vier Monate sind da seit der Katastroph­e vergangen. Mittlerwei­le hat das »Montana« 68 Zimmer, 120 sollen es einmal werden. 150 Menschen gibt das Hotel schon jetzt wieder Arbeit.

Der Luxusherbe­rge ging es immer besonders gut, wenn es Haiti besonders schlecht ging. Der Sturz von Diktator Baby Doc 1986, das Embargo von 1994, die Flucht von Präsident Jean Bertrand-Aristide, UNO-Missionen, Staatsstre­iche, Invasionen, Naturkatas­trophen: Wenn Haiti in den Schlagzeil­en war, sendeten TV-Teams aus aller Welt live von der Hotelterra­sse. Humanitäre Helfer, Blauhelme, Reporter und Diplomaten diskutiert­en dort mit Blick auf die vielen Slums von Port-au-Prince wie Haiti sich endlich aus der Spirale aus Armut, Korruption, Naturkatas­trophen und schlechter Regierungs­führung befreien könne – und fanden bislang keine Lösung.

Doch in den vergangene­n acht Jahren hat der völlig unkoordini­ert verlaufene Wiederaufb­au viele Milliarden Dollar und Tausende internatio­nale Helfer und Glückritte­r nach Haiti gespült. Mittlerwei­le haben das Marriott und weitere internatio­nale Hotelkette­n Filialen in Port-au-Prince eröffnet. Nadine Cardozo-Riedl fürchtet die Konkurrenz nicht. Im Gegenteil, sie ist froh, dass endlich wieder mehr Menschen in ihre Heimat kommen. Am meisten freut sie sich über jene, die langfristi­g in Haiti investiere­n oder einfach nur Urlaub machen wollen. So wie früher. Sie kann sich noch gut an die 60er und 70er Jahre erinnern: Damals war der Karibiksta­at noch ein angesagtes Ferienziel, in dem Bill und Hillary Clinton 1975 ihre Flitterwoc­hen verbrachte­n.

Angst, dass eine erneute Katastroph­e schon bald alle Bemühungen wieder zunichtema­chen könnte, hat die Haitianeri­n nicht: »Die letzten großen Beben waren 1751, 1770, 1842 und 2010. Wir dürfen also hoffen, jetzt erst mal verschont zu werden«, sagt die unverbesse­rliche Optimistin. Zudem sei ihr Land mittlerwei­le viel besser auf Beben und Hurrikans vorbereite­t. Im Stadtzentr­um erinnert zwar noch die Ruine der Kathedrale an die verheerend­en Erdstöße, aber, so Cardozo-Riedl: »Vieles ist in Haiti in den vergangene­n acht Jahren schöner und sicherer wiederaufg­ebaut worden. Nicht nur unser Hotel.«

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Foto: Philipp Hedemann Nadine Cardozo-Riedl am Pool des wiederaufg­ebauten Hotels Montana in Port-au-Prince
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Foto: Bomberos Unidos sin Fronteras Vier Tage nach dem Beben wurde Nadine Cardozo-Riedl von Feuerwehrk­räften gerettet.
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Foto: Nadine Cardozo-Riedl Das Hotel Montana nach dem Erdbeben 2010

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