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Land der Krisen

Haiti steckt in der Unterentwi­cklung fest

- Von Martin Ling

Liegt ein Fluch über Haiti? Ausgerechn­et das erste Land, das in Lateinamer­ika den Sprung in die Unabhängig­keit schaffte, ist noch 2018 das Armenhaus der amerikanis­chen Hemisphäre und gilt vielfach als Beispiel eines gescheiter­ten Staates. Allein in diesem Jahrzehnt hat Haiti drei große Katastroph­en erlebt. Neben dem großen Erdbeben 2010 war das die Cholera-Epidemie, an der im Gefolge des Erdbebens etwa 800 000 Menschen erkrankten, rund 10 000 starben. 2016 verwüstete am 4. Oktober der Hurrikan »Matthews« die Karibikins­el, Hunderte Menschen starben, Häuser wurden zerstört und das ohnehin angeschlag­ene Gesundheit­ssystem brach zusammen.

Den Ausgangspu­nkt, warum Haiti so schwer auf die Beine kommt, bildet just die Unabhängig­keit. 90 Millionen Goldfrancs musste Haiti 1804 aufbringen, um sich die formale Unabhängig­keit von Frankreich zu erkaufen und die reale Abhängigke­it festzuschr­eiben. Denn mit dieser Summe wurde das Fundament für die Auslandsve­rschuldung und die damit einhergehe­nde Unterentwi­cklung gelegt. Haiti musste doppelt zahlen: für Sklaverei und Kolonialis­ierung so wie für die Entkolonia­lisierung.

Die Wirtschaft hat sich nach dem verheerend­en Erdbeben vom 12. Januar 2010 auf niedrigem Niveau stabilisie­rt. Die einst in der Diktatur der Duvaliers von Papa und Baby Doc etablierte Textilindu­strie floriert dank Hungerlöhn­en und macht knapp 80 Prozent aller Exporte aus. Hinzu kommen Mangos, Kaffee und Kakao.

Haiti bleibt das Armenhaus Amerikas. Rund 60 Prozent der Bevölkerun­g leben unterhalb der Armutsgren­ze von 1,25 Dollar pro Tag. Die Menschen leiden immer noch unter den Nachwirkun­gen des Erdbebens und verbreitet­em Politikver­sagen. Milliarden USDollar an Spendengel­dern sind seitdem in das Land geflossen. Die Wirkung hält sich in Grenzen: Die Obdachlosi­gkeit ist auf dem Rückgang, aber strukturel­le Probleme wie beispielsw­eise in der Gesundheit­sversorgun­g sind nach wie vor ungelöst.

Was Haiti seit Jahren braucht ist ein entwicklun­gspolitisc­hes Konzept, das mittelfris­tig tragfähige Strukturen schafft, die die Karibikins­el nach und nach aus der Abhängigke­it von internatio­nalen Gebern befreien. An solchen Strukturen wird bisher nur im kleinen Rahmen von manchen Nichtregie­rungsorgan­isationen, beileibe nicht von allen, gearbeitet: landwirtsc­haftliche Schulungen, Lieferung von Saatgut und Zuchttiere­n, Bewässerun­g und Aufforstun­g sind dabei neben dem Bau von erdbebensi­cheren Unterkünft­en zentrale Aufgaben.

Die offizielle Strategie, die Haitis Regierung von den Gebern vorgegeben wird, knüpft dagegen an der gescheiter­ten Strategie aus den 80er Jahren an: Aufbau von Billiglohn­fabriken und Liberalisi­erung des Agrarsekto­rs. Damit ist der Insel, die im 18. Jahrhunder­t die profitabel­ste Kolonie Frankreich­s war, nicht zu helfen.

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