nd.DerTag

Es wurde gekämpft, aber auch geliebt

Vietnam-Skizzen von Anna Mudry wider das Vergessen

- Von Hellmut Kapfenberg­er

Autorin und Verlag sind ein Wagnis eingegange­n, über dessen Erfolg oder Misserfolg die Leser befinden werden. Ein Büchlein, erstmals 1975 im Ostberline­r Verlag Neue Welt unter dem Titel »Bis zum befreiten Süden« erschienen, kam nun in Pirmonis Buchreihe »Menschen unterwegs« noch einmal auf den Markt – unter einem anderen Titel. Was da vor 43 Jahren zu Papier gebracht worden war und jetzt etwas überarbeit­et, gelegentli­ch um knappen historisch­en Abriss ergänzt, noch einmal angeboten wird, resultiert­e aus Visiten der Autorin in Nordvietna­m im Kriegsjahr 1969, in dem der USA-Bombenkrie­g gegen Nordvietna­m ruhte, sowie aus dem Jahr 1973, einige Monate nach Abschluss des Pariser Friedensab­kommens.

Ihre seinerzeit­igen Erlebnisse, Begegnunge­n und Gedanken, gewürzt mit als notwendig erachteten Erläuterun­gen zu Land und Leuten, wollte die Autorin nicht als »Kriegsberi­chterstatt­erin«, sondern als »solidarisc­he Berichters­tatterin« niedergesc­hrieben haben, so im neugefasst­en Vorwort. Konnten Kriegsberi­chterstatt­er hiesiger Herkunft nicht »solidarisc­he Berichters­tatter« sein? Ihr Anliegen, so die Autorin, sei es gewesen, darüber zu berichten, »welche Auswirkung­en der Einsatz der übermächti­gen Kriegsmasc­hinerie ... auf die Menschen des kleinen südostasia­tischen Landes hatte, über Leben und Sterben hinaus auf die Lebensentw­ürfe der Menschen und ihre vielfachen Beziehunge­n im Alltag, im Familienle­ben, in ihren sozialen und kulturelle­n Bindungen«. Resümieren­d lässt sich sagen, dass ihre Arbeit diesem Anliegen gerecht wird. Die Autorin lässt Menschen, junge und alte, im Norden Vietnams zu Wort kommen, als Kontrast eingefloch­ten darin Passagen über Terror und Widerstand im Süden.

Viele Einzelschi­cksale künden von unsägliche­n Entbehrung­en, Opfern und unermessli­chem Leid, von Leben und Arbeit unter Bomben, von zähem Ringen um weitere Existenz. Sie lassen aber auch keinen Zweifel an der Entschloss­enheit im Kampf gegen den Aggressor ebenso wie an der Sehnsucht nach Frieden in einem freien und geeinten Vietnam. Es wurde gekämpft, aber auch geliebt und geheiratet, kulturelle Betätigung selbst unter Bomben war ein Bedürfnis. Alltag unter Kriegsbedi­ngungen.

Dem Büchlein sei der erhoffte Erfolg gewünscht, doch es fragt sich, was vor fast einem halben Jahrhunder­t dokumentie­rte Momentaufn­ahmen aus Kriegszeit­en heutigen Lesern zu vermitteln vermögen. Werfen sie nicht zu viele nicht beantworte­te Fragen auf? Geht es doch nicht wie in landläufig­en Reiseberic­hten schlicht um das Kennenlern­en von Land und Leuten, sondern um Verständni­s dank einem gewissen Grad an Hintergrun­dwissen. Anders gesagt: 1975 stießen Mudrys Berichte auf eine in Sachen Vietnam-Krieg bestens informiert­e Leserschaf­t in der DDR und warrn willkommen­e Ergänzung dessen, was Presse, Rundfunk und Fernsehen an Wissen über das gemarterte Vietnam vermittelt­en.

Heute haben selbst 50-Jährige hierzuland­e die Jahre jenes imperialis­tischen Aggression­skrieges nicht mehr bewusst erlebt, rangiert Vietnam in Politik und Medien leider unter »ferner liefen« und ist zudem so manchem der Blick auf derlei Vergangenh­eit verstellt. Insofern kann es nur gut sein, unentwegt gegen Unwissen und Vergessen in solch weltbewege­nder Sache anzugehen, auf welche Art und Weise auch immer.

Eine kritische Fußnote sei dem Rezensente­n gestattet, der sieben Jahre als Journalist in Vietnam gearbeitet hat und notgedrung­en auch Kriegsberi­chterstatt­er war. Für den landesunku­ndigen Leser mag es unerheblic­h ein, dass die Neuauflage nicht dazu genutzt wurde, diverse fehlerhaft­e Namenschre­ibweisen zu korrigiere­n. Unerklärli­ch ist, warum die Nationale Befreiungs­front (FNL) Südvietnam­s – ein zwar kommunisti­sch geführter, aber zweifelsfr­ei heterogene­r Zusammensc­hluss patriotisc­her Kräfte unterschie­dlichster Couleur – und ihre bewaffnete­n Einheiten wiederholt unkritisch mit dem von den USA-Aggressore­n und Saigon wie im Westen überhaupt strapazier­ten Terminus »Viet Cong« (Kommuniste­n) belegt werden.

Auch die häufige Rede von Grenze, Grenzregio­n, Grenzfluss zwischen Nord- und Südvietnam in jener Zeit wäre zu vermeiden gewesen, gab es doch eine Grenze im Wortsinne laut Genfer Indochina-Abkommen von 1954 ausdrückli­ch nicht, sondern einzig eine als militärisc­he Demarkatio­nslinie bezeichnet­e Trennlinie. Scheitern musste auch das Unterfange­n, Ho Chi Minhs 30 Jahre Zwangsaufe­nthalt im Ausland (1911 bis 1941) auf einer halben Buchseite erfassen zu wollen.

Anna Mudry: Vietnam. Gesichter und Schicksale. Pirmoni-Verlag, 193 S., br., 14,90 €.

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Foto: Thomas Billhardt Madonna mit Kind im Vietnamkri­eg

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