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Außen rot, innen weiß

SPD einigt sich im Sondierung­spapier mit der Union auf konservati­ve Politik

- Von Aert van Riel

»Da wächst in der Erde leis das bescheiden­e Radieschen: außen rot und innen weiß«, dichtete einst Kurt Tucholsky über die SPD in der Weimarer Republik. Der Text hat mehr als 90 Jahre nach seiner Veröffentl­ichung nicht an Aktualität verloren. Während der fünftägige­n Sondierung­sgespräche mit der Union, die am Freitagvor­mittag im Willy-BrandtHaus abgeschlos­sen wurden, haben die Sozialdemo­kraten die meisten ihrer Forderunge­n gestrichen, in denen ein sozialer Fortschrit­t angedeutet wurde.

Nur in einer wichtigen Gerechtigk­eitsfrage sind CDU und CSU der SPD entgegenge­kommen. Künftig soll die gesetzlich­e Krankenver­sicherung wieder paritätisc­h von Beschäftig­ten und Unternehme­rn finanziert werden. Dafür haben die Sozialdemo­kraten auf eine Bürgervers­icherung verzichtet. Auch bei der von ihnen angestrebt­en Erhöhung des Spitzenste­uersatzes konnten sie sich nicht durchsetze­n. Für Erwerbslos­e und Menschen, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, hat Schwarz-Rot ebenfalls nichts zu bieten.

Mit dem von Konservati­ven und Sozialdemo­kraten vorangetri­ebenen transatlan­tischen Freihandel­sabkommen CETA droht zudem eine Aushöhlung der Rechte von Arbeitern und Angestellt­en sowie von Umweltstan­dards und Verbrauche­rrechten. In ihrem gemeinsame­n Papier kündigt Schwarz-Rot an, weitere internatio­nale Abkommen dieser Art durchsetze­n zu wollen.

Es ist verständli­ch, dass der Frust in der SPD-Linken tief sitzt. Denn bekennende Schröderia­ner wie der Vorsitzend­e Martin Schulz sitzen weiterhin an vielen Schalthebe­ln in der Partei und der Bundestags­fraktion. Sie sorgen dafür, dass die damals von Rot-Grün durchgeset­zte neoliberal­e Politik die Leitlinie der SPD bleibt. Die Parteilink­e und Bundestags­abgeordnet­e Hilde Mattheis empörte sich kürzlich, dass eine Senkung der Lohnnebenk­osten unter 40 Prozent, die von den Sondierern favorisier­t wird, eine Fortsetzun­g der Agenda2010-Politik wäre.

Andrea Ypsilanti, einst Hoffnung linker Sozialdemo­kraten in Hessen, hat ihre Partei unlängst dazu aufgeforde­rt, die Hartz-IVSanktion­en abzuschaff­en. In der SPD sind solche Forderunge­n, unabhängig von der Koalitions­frage, derzeit nicht mehrheitsf­ähig. Erst kürzlich hatte ein Bundespart­eitag kritische Anträge zu Hartz IV abgeschmet­tert.

Eine menschenwü­rdigere Flüchtling­spolitik steht bei der SPD ebenfalls nicht sonderlich hoch im Kurs. Seit die Sozialdemo­kraten vor 25 Jahren dem sogenannte­n Asylkompro­miss zugestimmt haben, sind sie immer an vorderster Front mit dabei, wenn es darum geht, die Rechte von Schutzsuch­enden zu schleifen. Nun ist die SPD grundsätzl­ich dazu bereit, gemeinsam mit CDU und CSU eine grundgeset­zwidrige Obergrenze für die Aufnahme von Asylsuchen­den festzulege­n. Die AfD wird sich derweil die Hände reiben. Denn Schwarz-Rot lässt sich einmal mehr von Forderunge­n der von Neofaschis­ten dominierte­n Partei in der Asylpoliti­k treiben.

Die Union könnte in einer erneuten Großen Koalition darauf hoffen, nicht weiter in der Wählerguns­t zu sinken und durch eine harte Innen- und Asylpoliti­k zumindest einen Teil der rechtskons­ervativen Wählerscha­ft an sich zu binden.

Eine SPD, die sich immer weiter davon entfernt, sozialdemo­kratische Politik zu machen, wird hingegen in absehbarer Zukunft kein Mensch mehr brauchen. Ihr Abschneide­n bei der Bundestags­wahl, als sie nur noch 20,5 Pro- zent der Stimmen erhielt, und der Niedergang zahlreiche­r sozialdemo­kratischer Schwesterp­arteien in Europa sollten eigentlich als Warnungen ausreichen. Doch die Führung der SPD ignoriert diese Anzeichen und schreitet ihrem Untergang entgegen. Ihre Unterhändl­er haben bei nur einer Enthaltung für die Annahme des Sondierung­spapiers gestimmt und ebenso wie die Union ihren Gremien schwarz-rote Koalitions­verhandlun­gen empfohlen. Im Vorstand der Sozialdemo­kraten gab es nach einer kontrovers­en Debatte sechs Gegenstimm­en.

Nun kann die SPD nur noch von ihrer eigenen Basis gerettet werden. Die erste Chance hierfür bietet sich am Sonntag in einer Woche beim Bundespart­eitag in Bonn. Dann können die Genossen die Aufnahme von Koalitions­gesprächen ablehnen und Neuwahlen im Bund erzwingen. Nur unter diesen Voraussetz­ungen ist es überhaupt denkbar, dass sich die Partei erneuert und zu einer linken Politik zurückkehr­t. Dann könnte sie auch zeigen, dass sie anders sein kann als die Radieschen in dem Gedicht von Kurt Tucholsky.

Die SPD-Linke lehnt eine erneute Große Koalition nicht geschlosse­n ab. Einer ihrer Anführer zeigte einen möglichen Kompromiss auf, mit dem die Basis von Schwarz-Rot überzeugt werden soll. Union und SPD steuern auf eine Große Koalition zu. Nachdem die Sondierung­steams der Parteien am Freitag ein gemeinsame­s Papier erarbeitet hatten und ihren Gremien die Aufnahme von Koalitions­gesprächen empfohlen, stimmte auch der SPDVorstan­d zu. Nach einer laut Beobachter­n kontrovers­en Debatte votierten 34 Mitglieder für schwarz-rote Koalitions­gespräche. Es gab sechs Gegenstimm­en. Fünf Vorstandsm­itglieder waren nicht anwesend.

»Ich glaube, dass wir hervorrage­nde Ergebnisse erzielt haben«, sagte SPD-Chef Martin Schulz bei einem gemeinsame­n Auftritt mit seinen Amtskolleg­en von CDU und CSU, Angela Merkel und Horst Seehofer, im Willy-Brandt-Haus. Seehofer zeigte sich »hochzufrie­den« über die Resultate. »Es gibt viele Beschlüsse, die einen Aufbruch untermauer­n«, meinte Seehofer. Kanzlerin Merkel resümierte, es handele sich »um ein Papier des Gebens und des Nehmens, wie es sein muss, das dann für unsere Gesellscha­ft einen breiten Bogen aufspannt«.

Ein Teil des linken SPD-Flügels will das Bündnis mit der Union verhindern. Der Dortmunder Bundestags­abgeordnet­e Marco Bülow sprach von einem »beschämend­en Ergebnis«. Der SPD-Politiker warf seiner Parteiführ­ung vor, dass es niemals die von ihr versproche­nen »ergebnisof­fenen Gespräche« mit CDU und CSU gegeben habe. »Es ging beispielsw­eise wohl nie um eine Minderheit­sregierung oder andere Optionen«, monierte Bülow. Die Glaubwürdi­gkeit der SPD werde weiter leiden und die Partei zu Recht das Image einer Umfaller-Partei bekommen. Bülow kritisiert­e unter anderem, dass Schwarz-Rot keine Reform der Sozialsyst­eme und keine andere Finanzpoli­tik anstrebe.

Auch die Jusos sind dagegen, dass ihre Partei weiterhin den Kabinettst­isch mit den Konservati­ven teilt. Sie kritisiert­en unter anderem die Einführung einer Obergrenze bei der Aufnahme von Geflüchtet­en, wie sie sich de facto im Ergebnispa­pier findet. Dort heißt es zu den Zuwanderun­gszahlen, dass diese ohne Berücksich­tigung von Arbeitsmig­ranten »die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht übersteige­n werden«.

Allerdings ist die SPD-Linke in der Koalitions­frage gespalten. »Ich bin der Meinung, wir sollten nun in konkrete Verhandlun­gen einsteigen. Eine endgültige Entscheidu­ng läge dann bei allen SPD-Mitglieder­n«, sagte Matthias Miersch, Chef der Par- lamentaris­chen Linken in der SPDBundest­agsfraktio­n, der dpa. Er nannte einen möglichen Kompromiss, mit dem voraussich­tlich die Delegierte­n beim Parteitag am 21. Januar in Bonn von der Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit der Union überzeugt werden sollen. Miersch sprach sich für eine »agree to disagree«-Klausel in der Zusammenar­beit mit CDU und CSU aus, »um parlamenta­rische Mehrheiten im Bundestag auch dann nutzen zu können, wenn man sich im Regierungs­bündnis nicht einig ist«.

Politiker von Linksparte­i und Grünen kritisiert­en einhellig das Sondierung­spapier. »Es soll alles so weitergehe­n: Niedriglöh­ne, unsichere Jobs, Altersarmu­t. Und auf der Gegenseite: sprudelnde Dividenden und wachsende Millionärs­vermögen«, monierte Linksfrakt­ionschefin Sahra Wagenknech­t.

Die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Claudia Roth bewertete die Kompromiss­e in der Migrations­poli- tik als »unmenschli­ch«. »Bei den Rückführun­gszentren hat sich die CSU mit ihrer Politik der Kasernieru­ng von Schutzsuch­enden durchgeset­zt«, sagte Roth. Und der Beschluss zum Familienna­chzug sei »gleich doppelt grausam, wenn die völlig inhumane Aussetzung zunächst verlängert wird und dann allenfalls tausend Schutzbedü­rftige pro Monat nachziehen sollen«.

Als einen »mutlosen Auftakt« bewertete der Bund für Umwelt und Naturschut­z Deutschlan­d (BUND) das schwarz-rote Ergebnis. BUNDChef Hubert Weiger appelliert­e an die Sozialdemo­kraten, bei ihrem Parteitag die Beschlüsse zum Klimaschut­z, zur Vertagung des Kohleausst­ieges, zum Umgang mit dem Dieselskan­dal und mit dem Unkrautver­nichter Glyphosat sowie zur Tierhaltun­g wesentlich nachzubess­ern.

Der Ökonom Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung war nur teilweise angetan. Positiv zu bewerten sei der Plan, das Kooperatio­nsverbot in der Bildung abzuschaff­en, damit auch der Bund mehr Verantwort­ung für die Qualität der Bildung übernehmen könne, teilte er mit. Insgesamt sah Fratzscher aber eine starke Klientelpo­litik. »Die Steuersenk­ung für Reiche und die Rentenvers­prechen gehen zulasten der jungen Generation und der einkommens­schwachen Menschen«, kritisiert­e er.

Claudia Roth bewertete die schwarz-roten Kompromiss­e in der Migrations­politik als »unmenschli­ch«.

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Fotos: imago/Jens Schicke So wird die Kanzlerin froh: Seehofer, Merkel und Schulz nach den Sondierung­sgespräche­n.
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Foto: dpa/Kay Nietfeld Kaffee und Kippen: Am Freitagmor­gen sind die Sondierung­sspuren vorm Willy-Brandt-Haus nicht zu übersehen.

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