nd.DerTag

Entspannun­g in Zeiten des Notstandes

Während sich die deutsch-türkischen Beziehunge­n entkrampfe­n, fragen türkische Opposition­elle nach dem Preis für die »Rückkehr zur Normalität«

- Von Nelli Tügel

Can Dündar und Meşale Tolu appelliere­n an die Bundesregi­erung, die türkische Opposition nicht im Stich zu lassen. Derweil sorgt das türkische Verfassung­sgericht grenzüberg­reifend für Wirbel. Seit Wochen wabern Begriffe wie »Entspannun­g«, »Charmeoffe­nsive« und »Wiederannä­herung« durch die deutsche Öffentlich­keit, wenn von den Beziehunge­n zur Türkei die Rede ist. Bei der türkischen Opposition wachsen indes die Sorgen vor schmutzige­n Deals. Am Freitag appelliert­e der im deutschen Exil lebende Ex-Chefredakt­eur des regierungs­kritischen Blattes »Cumhuriyet«, Can Dündar, im Interview mit der »Nordwest-Zeitung« an die Bundesregi­erung. Diese dürfe ihre Prinzipien nicht aufgeben und müsse auf Rechtsstaa­tlichkeit und die Einhaltung der Menschenre­chte pochen. Dündar warnte vor einem Waffendeal mit der Türkei zur Freilassun­g des »Welt«-Korrespond­enten Deniz Yücel. Einen solchen hatte Außenminis­ter Sigmar Gabriel vergangene Woche angedeutet. »Die deutschen Inhaftiert­en sind Geiseln. Kauft Deutschlan­d Geiseln mit schmutzige­n Deals frei, fühlt sich Erdoğan ermu- tigt, gleich die nächsten Journalist­en einzukerke­rn«, so Dündar. Die in der Türkei vor Gericht stehende deutsche Übersetzer­in Meşale Tolu äußerte sich ähnlich. »Ich erwarte von der Bundesregi­erung, dass sie sich für die Opfer von Menschenre­chtsverlet­zungen einsetzt«, sagte sie dem »Spiegel«. Die Türkei werde nach wie vor durch Notstandsg­esetze regiert, so Tolu, die im Dezember aus türkischer Untersuchu­ngshaft entlassen worden war. Auch dies wird von vielen Seiten als Zeichen der Entspannun­g gewertet.

Eine solche ist ganz offensicht­lich Ziel der türkischen Regierung – und auch Deutschlan­d und die EU wünschen die »Rückkehr zur Normalität«. Das man sich von dem einst guten Verhältnis weit entfernt hatte, lag ohnehin nicht an Europa. Das Porzellan hatte die türkische Regierung mit wüsten Beschimpfu­ngen, Nazivergle­ichen und Verhaftung­en ausländisc­her Staatsbürg­er zerschlage­n. Nun scheint Erdoğans Truppe vor allem wegen der wirtschaft­lichen Beziehunge­n einen Gang zurückzusc­halten.

In den vergangene­n Wochen war wegen der hohen Inflation die Wirtschaft das Thema Nummer eins in der türkischen Öffentlich­keit. Und: Die Tourismuss­aison steht ins Haus. Das kommende Wochenende sei, schreibt die »Welt«, für alle deutschen Touristik-Unternehme­n das nachfrages­tärkste des gesamten Jahres; 1,2 Millionen Deutsche planen in den nächsten Tagen ihren Sommerurla­ub. Passend zum deutsch-türkischen Tauwetter meldete der Reiskonzer­n TUI dieser Tage schon jetzt ein Buchungspl­us für die Türkei von 70 Prozent ge- Johannes Hahn, EU-Erweiterun­gskommissa­r genüber 2017, man stocke daher die Flugkapazi­täten um 100 000 Plätze auf. Da helfen weitere Entspannun­gsübungen, um noch mehr Urlaubsbuc­her zum Nachahmen zu animieren.

Zur Entkrampfu­ng des Verhältnis­ses zur Türkei äußerte sich am Freitag auch der für die Beitrittsv­erhandlung­en verantwort­liche EU-Kommissar Johannes Hahn. Er begrüße einen konstrukti­ven Dialog und habe ohnehin immer betont, dass die »Türkei für die EU ein sehr wichtiger strategisc­her Partner« sei, erklärte Hahn der Deutschen Presse-Agentur. Gleichzeit­ig dämpfte er zu hohe Erwartunge­n.

Diese sind auch kaum angebracht, blickt man auf die jüngsten Ereignisse in der Türkei. Trotz der am Freitag lancierten Nachricht, dass 1800 nach dem Putschvers­uch 2016 entlassene Beamte wieder eingestell­t werden sollen, gehen die Verhaftung­en und Verurteilu­ngen türkischer Staatsbürg­er weiter. Vergangene Woche wurde der frühere Fraktionsv­orsitzende der Linksparte­i HDP, Idris Baluken, wegen »Mitgliedsc­haft in und Propaganda für« die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK zu fast 17 Jahren Haft verurteilt. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch sechs junge, für die HDP aktive Studentinn­en, die – ebenfalls vergangene Woche – von einem Gericht in Antalya für insgesamt fast 35 Jahre ins Gefängnis geschickt wurden. Anfang der Woche empfahl das Kabinett zudem dem türkischen Parlament, in dem die AKP die Mehrheit hat, den seit Juli 2016 herrschend­en Ausnahmezu­stand erneut zu verlängern.

Die »Entspannun­g« bezieht sich also vornehmlic­h auf das Verhältnis zu Deutschlan­d und der EU. Innenpolit­isch kann davon in der Türkei keine Rede sein. Im Gegenteil – die Freilassun­gen mehrerer deutscher Gefangener verstärkt eher den Eindruck, dass die türkische Justiz immer öfter den Weisungen der Regierung folgt.

Die Ereignisse rund um die Entscheidu­ng des türkischen Verfassung­sgerichtes vom Donnerstag­nachmittag ergeben allerdings ein ambivalent­es Bild. Das Gericht hatte – überrasche­nd – die Klage der beiden Journalist­en Mehmet Altan und Şahin Alpay zugelassen, die mit ihrer mehr als ein Jahr andauernde­n Untersuchu­ngshaft verschiede­ne Grundrecht­e gefährdet sahen. Das Verfassung­sgericht in Ankara gab ihnen recht, sah in der langen Untersuchu­ngshaft ein Verstoß gegen die Pressefrei­heit und veranlasst­e, die beiden auf freien Fuß zu setzen. Die Regierung reagierte am Freitag äußerst wütend darauf.

Diese Entscheidu­ng schlägt auch in Deutschlan­d hohe Wellen. Denn der seit fast einem Jahr in U-Haft sitzende Deniz Yücel hat beim Verfassung­sgericht ebenfalls Klage eingereich­t. Dass es in dem Fall Bewegung geben könnte, hatte der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu bereits vergangene Woche – kurz vor seinem Besuch bei Sigmar Gabriel in Goslar – angedeutet. Mit einer Einschränk­ung allerdings: Er begrüße ein rasches Verfahren, habe aber keinen Einfluss auf die Justiz und könne daher auch keine Deals machen – so Çavuşoğlu.

»Die Türkei ist für die EU ein sehr wichtiger strategisc­her Partner.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany