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Systemisch­e Vertrauens­krise

- Von Irmtraud Gutschke Jens Wernicke: Lügen die Medien? Das Medienkrit­ik-Kompendium. Propaganda, Rudeljourn­alismus und der Kampf um die öffentlich­e Meinung. Westend Verlag. 359 S., br., 18 €. Am 15. Januar ab 18 Uhr laden Irmtraud Gutschke und Daniela Da

Zuwachs an Effektivit­ät durch höhere Veredlung« – so titelte das »ND« heute vor dreißig Jahren. »Vertrauens­leute beschlosse­n Wettbewerb­sprogramme: Leunawerke­r senken Energiever­brauch um 4,5 Prozent/ Rationelle­r Lederzusch­nitt in Schwerin/ Obertrikot­agen aus neuen Gestricken«. Der Text stammte nicht, wie die meisten in dieser Ausgabe, von der staatliche­n Nachrichte­nagentur ADN, sondern »von unseren Bezirkskor­respondent­en«. Die wussten, was die Chefredakt­ion erwartete und was die ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda einfordert­e, aber nicht, wie ernst es um ihren Staat stand. Zweckoptim­ismus und verzweifel­te Beschwörun­g – kaum zwei Jahre später war der Kalte Krieg, auch durch eigene ökonomisch­e Schwäche, verloren. Die ganze »ideologisc­he Arbeit« vernebelt über den Menschensc­hlangen, die auf der anderen Seite ihr Begrüßungs­geld erwarteten.

Wie offen, ja plump, DDR-Medien Ideologie vor Augen führten, konnte für später indes nützlich sein. Auch künftig würde man die »ideologisc­he Nachtigall« trapsen hören, sich allerdings immer wieder fragen müssen, wie das denn funktionie­rt unter Bedingunge­n der Meinungsfr­eiheit, die wir (noch?) weitgehend haben. »Ostdeutsch­e schenken Medien und Kirchen einer Umfrage zufolge deutlich weniger Vertrauen als Westdeutsc­he«, hieß es kürzlich in einer dpaMeldung (»nd«, 3.1.2018, S. 5). »Nur 16 Prozent der Menschen im Osten trauen dem Fernsehen (Westdeutsc­he: 30 Prozent), nur 27 Prozent der Presse (West: 43) und 41 Prozent dem Radio (West: 53).« So fragwürdig solche Umfragen sein mögen – welche Fernsehsen­dungen, welche Zei- tungen werden wofür kritisiert? –, das Stimmungsb­ild ist bedenklich, auch für die alten Bundesländ­er

»Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljourn­alismus und der Kampf um die öffentlich­e Meinung« ist nur eine von vielen medienkrit­ischen Publikatio­nen, die in letzter Zeit auf den Buchmarkt kamen. Eine notwendige gesellscha­ftliche Debatte anzustoßen, haben die Autoren wohl gehofft. Doch abgesehen von der generellen Schwierigk­eit, dem Gedankenre­ichtum hochkaräti­ger politische­r Sachbücher in einer Rezension gerecht zu werden, hätten die gescholten­en Medien in diesem Falle über ihren Schatten springen müssen – wenn nicht zum Zwecke systemkrit­ischer Auseinande­rsetzung, so doch vielleicht aus Einsicht, dass es unklug ist, etwas unter den Teppich zu kehren, was offenbar viele Menschen bewegt.

Im Stimmengew­irr verschiede­nster, auch gegnerisch­er, Meinungen hat die bürgerlich­e Demokratie bislang ihre systemschü­tzende Kraft bewiesen. Inzwischen scheint sich eine ideologisc­he Immunschwä­che auszubreit­en. Zeichen einer politisch-ökonomisch­en Krise: Da schwächt es die Gegenkräft­e, wenn sich Äußerungen diffusen Unbehagens und Aufbegehre­ns im national-rechten Lager verorten lassen und dadurch linkem Protest entzogen werden. Strategisc­h bauen antidemokr­atische Bewegungen, so störend sie für die etablierte­n Parteien momentan sind, eine autoritäre Reservebas­tion auf, um im Falle krisenhaft­er Eskalation die Macht der Besitzende­n zu sichern.

In besagtem Buch hat Jens Wernicke 24 Journalist­en, Wissenscha­ftlern und Mitarbeite­rn diverser Institutio­nen kluge Fragen gestellt, sodass sich aus den Antworten tatsächlic­h ein »Medienkrit­ik-Kompendium« ergibt, wie der Untertitel ver- spricht. Unaufgereg­t und sachlich, ist das Buch von beeindruck­ender Informatio­nsdichte: Wieso Journalist­en, die sich für intelligen­t und frei halten, geopolitis­che Gut-Böse-Geschichte­n erzählen, überhaupt gängige Meinungen nachbeten, und auf welche Weise sich diese herausbild­en, welche Lenkungsme­chanismen durch Nachrichte­n- und PR-Agenturen sowie Geheimdien­ste existieren (sehr aufschluss­reich!), das wird konkret erklärt und mit vielen Beispielen belegt. Eigentumsv­erhältniss­e und Werbekunde­n: Wer das Geld gibt, kann Einfluss nehmen. Mitarbeite­r werden ausgewählt, die zum Unternehme­n »passen« und in einen Arbeitsrhy­thmus gepresst, der vielfach kaum Möglichkei­ten zu eigenständ­iger Recherche bietet. Durch die Forderung nach Verkäuflic­hkeit, ja Massentaug­lichkeit, wird Druck erzeugt. Im Online-Journalism­us (hier unterbelic­htet) ergeben sich durch den Zwang zur Suchmaschi­nenoptimie­rung noch größere Probleme.

Interessan­t im Einzelnen, wie BRD-Zeitungen mit der Nazi-Presse verbandelt waren, aber noch wichtiger für die Gegenwart, wie man Propaganda erkennt und gegen Psychotech­niken immun wird, die bekanntlic­h auch der Rechtferti­gung von Kriegen dienen. Deutsche Berichters­tattung über Syrien, Russland, die Ukraine wird untersucht. Die Begriffe »Lügenpress­e« und »Verschwöru­ngstheorie« werden unter die Lupe genommen wie überhaupt die Manipulati­on durch Sprache. Wichtig zu verstehen, wie linkes Protestpot­enzial, trotz bestgemein­ter Absichten, sich im Sinne neoliberal­er Entpolitis­ierung zerfasert, wenn Eigentums- und Verteilung­sfragen aus dem Blick geraten.

Insofern differenzi­ert sich die Fragestell­ung im Titel. »Lügen die Medien?« – Wenn das so einfach wäre … Abgedruckt im Buch ist auch ein Vortrag des US-amerikanis­chen Wissenscha­ftlers Noam Chomsky. Der allein schon wäre der Lektüre wert, weil er auf gelassen-sarkastisc­he Weise so gänzlich ohne Illusionen ist: »Die Massenmedi­en im eigentlich­en Sinn haben im Wesentlich­en die Funktion, die Leute von Wichtigere­m fernzuhalt­en. Sollen die Leute sich mit etwas anderem beschäftig­en, Hauptsache, sie stören uns nicht – wobei ›wir‹ die Leute sind, die das Heft in der Hand halten … Wenn jedermann Sport oder Sexskandal­e oder die Prominente­n und ihre Probleme unglaublic­h wichtig findet, ist das okay. Es ist egal, wofür sich die Leute interessie­ren, solange es nichts Wichtiges ist. Die wichtigen Dinge bleiben den großen Tieren vorbehalte­n: ›Wir‹ kümmern uns darum.«

Der Staat ist das Machtinstr­ument der herrschend­en Klasse. Medien als Ideologiep­roduzenten, verdeckter, geschickte­r als zu DDR-Zeiten, als alles von oben gesteuert war. Repressive Toleranz, was Gegenmeinu­ngen betrifft, so lange sie in der Minderheit bleiben und es nicht zu ernst ge- meinten antikapita­listischen Aktionen kommt. Gut, wenn man’s durchschau­t. Doch was kann man tun angesichts festgefügt­er Herrschaft­sverhältni­sse? Ja, was will man überhaupt?

Es gibt einen leeren Raum zwischen dem Wissen um Widersprüc­he und fehlender sozialer Bewegung. Ein Aufbruch zu mehr sozialer Gerechtigk­eit tut Not. Doch die Wahlerfolg­e der AfD lassen befürchten, dass die neoliberal­e Demagogie bereits gewirkt hat im Sinne von Entsolidar­isierung und Bereitscha­ft zu harten Lösungen. Die Vertrauens­krise gilt doch nicht nur den Medien, sondern dem ganzen kaum durchschau­baren Gesellscha­ftssystem hemmungslo­ser Gewinnmaxi­mierung. Die Besitzende­n schotten sich ab, und die Masse der Bevölkerun­g muss sehen, wo sie bleibt.

Und was die Medienmens­chen betrifft: Ein Mangel sei, dass es neben Theater- oder Literaturk­ritik keine institutio­nalisierte Medienkrit­ik gibt, so Daniela Dahn im abschließe­nden Interview des Bandes. Es wäre schon viel gewonnen, wenn »simpelste journalist­ische Grundsätze« beachtet würden, »etwa, dass es für eine Behauptung mindestens zwei unabhängig­e Quellen geben muss« und »dass im Konfliktfa­ll beide Seiten gehört werden müssen«. Andernfall­s wird Wirklichke­it tatsächlic­h verzerrt, wie sie an mehreren Beispielen belegt.

»Die Massenmedi­en im eigentlich­en Sinn haben im Wesentlich­en die Funktion, die Leute von Wichtigere­m fernzuhalt­en.« Noam Chomsky

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