»Wir tragen nur unser kleines Sandkorn dazu bei«
Aureliano Carbonell vom Heer der Nationalen Befreiung (ELN) in Kolumbien über die Verhandlungen mit der Regierung in Bogotá und die Fallstricke des Friedensprozesses
»Wir sind nur Mediatoren in einem sozialen und politischen Konflikt. Unser Ziel ist, dass das Volk die Macht übernimmt. Davon sind wir nur ein kleiner Teil, deswegen setzen wir auf Einheit statt auf Fragmentierung innerhalb der Linken.«
Aureliano Carbonell, auch bekannt als Pablo Tejada, heißt mit bürgerlichem Namen Víctor Orlando Cubides. Er ist Kommandant der bereits 1965 gegründeten ELN-Guerilla. Als Intellektueller und auch aufgrund seiner Erfahrung aus über 70 Lebensjahren ist der Soziologe eine Schlüsselfigur der Guerillaorganisation. Carbonell war vor seinem Eintritt in den bewaffneten Widerstand Mitbegründer der soziologischen Fakultät an der Universität in Medellín. Mit ihm sprach Ani Dießelmann. Die Linguistin, Philosophin und Journalistin lebt in Kolumbien, sie schreibt über Lateinamerika und forscht an der Universidad del Valle in Cali.
Die Delegation des Heers der Nationalen Befreiung (ELN) verhandelt seit Februar 2017 mit der kolumbianischen Regierung von Juan Manuel Santos in Ecuadors Hauptstadt Quito über ein Friedensabkommen, wie es die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) im Jahr 2016 unter Dach und Fach gebracht haben. Wie geht es Ihnen und der Verhandlungsgruppe hier in Ecuador? Es geht uns gut, aber wie im Gefängnis. Wir können nirgendwo allein hin, bewegen uns immerzu unter strengsten Sicherheitsauflagen, wir können selten mal ein paar Meter laufen. Stets sind wir umringt von staatlichen Sicherheitskräften. Zudem haben wir ein eigenes Sicherheitssystem. Trotz allem sind wir nie ganz sicher und stets beunruhigt, aber bisher ist glücklicherweise nichts passiert.
Eine Frage, die außerhalb Kolumbiens oft gestellt wird: Warum unterschreibt die ELN nicht das Abkommen der FARC-Guerilla mit der Regierung aus dem Jahr 2016? Obwohl wir beide revolutionäre Organisationen sind, sind wir sehr un-
terschiedliche Gruppen mit verschiedenen historischen Hintergründen und Erfahrungen. Beide Gruppen hatten von Beginn an sehr verschiedene Vorstellungen davon, wie die Verhandlungen laufen sollten. Die ELN setzt als wichtigstes Element auf die Partizipation der Bevölkerung. Die Genoss*innen der FARC bewerteten die Teilhabe der Bevölkerung ebenfalls als relevanten Teil, konnten sich aber nicht gegen die Regierung durchsetzen und dies in angemessener Weise vereinbaren. In unseren Gesprächen ist die Bevölkerung elementar und das Thema nicht nur der erste Punkt der Agenda, sondern die Voraussetzung für unsere Verhandlung. Damit will ich nicht sa-
gen, dass der Vorschlag der FARC oder unserer besser wäre, sondern lediglich, dass wir als ELN nichts ohne die aktive Präsenz der Bevölkerung unterschreiben werden.
Warum ist die Teilhabe der Bevölkerung so wichtig?
Das hat vor allem mit der Suche nach der Wahrheit zu tun. Wir glauben nicht an einen Frieden, ohne ein Abkommen über eine echte Wahrheitskommission. In dem Abkommen mit der FARC wurde dieser Punkt immer weiter zusammengestutzt, bis schließlich in der Neuverhandlung nach dem Plebiszit nichts mehr davon übrig war. Sobald nun dieses Abkommen der FARC in konkrete Ge- setze umgesetzt wird, wird die Wahrheit verdunkelt und die Suche nach den wirklichen Tätern und Verantwortlichen verhindert. Der Handlungsspielraum in diesem Kontext ist allerdings sehr begrenzt.
Begrenzt wodurch?
Im Abkommen hat die Regierung strikte Zeitfenster für die Umsetzung der einzelnen Pflichten seitens der FARC gesetzt, aber für die Umsetzung der eigenen Aufgaben sehr laxe Rahmen. Die FARC hat ihre Verpflichtungen vollständig erfüllt. Jedoch gibt es ernsthafte Probleme bei der Einhaltung der Abkommen seitens der Regierung und der dominanten Klassen. Sie haben bisher nichts umgesetzt. Zudem gibt es historische Erfahrungen zwischen Guerillagruppen und Regierungen in Kolumbien, zum Beispiel die Abkommen in den 1990er Jahren mit der M-19, dem Ejército Popular de Liberación (EPL) und der hauptsächlich indigenen Quintin Lame sowie dem kleineren Partido Revolucionario de Trabajadores und der zur ELN gehörenden Corriente de Renovación Socialista. Kein Pakt konnte ein Ende des Konflikts her- beiführen, da keiner die Gründe für den bewaffneten Kampf beseitigt hat. Deswegen haben die FARC, die ELN und ein Sektor der EPL alle diese Abkommen bis heute überdauert. Und deswegen haben wir eine etwas andere Art von Gesprächen vor.
Warum denken Sie, dass ihre Verhandlung und eventuell ein Abkommen mit der ELN ein anderes Ergebnis bringen könnte?
In den bisherigen Abkommen – auch in dem mit der FARC 2016 – gab es stets Verhandlungen, bis in allen Punkten Einigung erreicht war, und dann einen Pakt zur Umsetzung. Nichts galt als vereinbart bis alles vereinbart ist. Wir lassen uns darauf nicht ein, haben ein anderes Verhandlungsdesign. Wir wollen einen Dialog ermöglichen, der partizipativ ist.
Laut des Berichtes »¡Ya Basta!« des Centro de Memoria Historica gehen rund 80 Prozent der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der Regierung und der Paramilitärs.
Unser Anspruch an die Aufklärung dieser Verbrechen und die Wahr-
heitsfindung ist weit komplexer als die Verhandlung des Wirtschaftsmodells. Ohne Zweifel haben die dominanten Klassen in Kolumbien immer eine Hauptrolle in den brutalen Auseinandersetzungen gespielt. Es ist eine historische Tatsache, dass besonders seit den 1980er Jahren die legalen Kräfte einen illegalen Apparat eingesetzt haben, der die Drecksarbeit für die staatliche Politik erledigt hat. Die legalen Einheiten konnten dadurch ihr Image aufrechterhalten. Bis heute bestehen diese paramilitärischen Armeen, deren Hauptaufgabe die Verbreitung von Terror ist. Eine Konsequenz davon sind sieben Millionen Vertriebene. Die hat nicht die Guerilla vertrieben. Ebenso die Landaneignung. Sieben Millionen Hektar Land sind illegal angeeignet worden. Auch dafür sind nicht wir verantwortlich, dieses Land ist im Besitz der dominanten und der aufstrebenden Klassen. Heute wird dort in Monokulturen Palmöl angebaut. Wie ging die Vertreibung vonstatten? Die Paramilitärs haben mit abgeschlagenen Köpfen von Menschen Fußball gespielt, sie haben Personen den Krokodilen vorgeworfen. Sie kamen in ein Dorf und haben die Menschen mit Steinen erschlagen, mit Hämmern. Es ist wichtig, dass Sie den Menschen in Europa davon erzählen, denn das kann sich sonst niemand vorstellen. Und vor allem gibt es Verantwortliche für diese Taten. Bisher galten als Täter die Ausführenden, jedoch geschah dies in Auftrag von Personen aus den besitzenden Klassen – Firmenbosse, Großgrundbesitzer – und auch im Auftrag von lokalen Politikern. In Kolumbien sind diese Klassen seit jeher sehr mächtig. Dazu kommt die Mitverantwortung der staatlichen Institutionen. Sie wissen, dass selbst Richter und Staatsanwälte, der Präsident der Staatssicherheit und viele andere erwiesenermaßen Komplizen dieser Strategie sind.
Sie meinen, diese Gewalt ist systemisch? Das ist korrekt. Gewalt ist in Kolumbien eine Doktrin, ein Dispositiv des Regierens. Diese Doktrin stützt sich auf den Kampf gegen den inneren Feind, gegen die Guerilla. Sie wird sowohl von dem legalen Arm des Staates, als auch von seinen illegalen Handlangern mit jeglicher Form von Brutalität praktiziert.
Wo wir schon bei der Schilderung von Extremen sind, ist auch auf die Opfer des Militärs hinzuweisen, die als falsos positivos (falsche Erfolge) präsentiert worden sind. Nur um persönlich einen kleinen Vorzug zu bekommen, einen Aufstieg in der Hierarchie oder einen Tag Urlaub, haben Soldaten willkürlich junge Männer ermordet, ihnen eine Guerillauniform angezogen und als im Kampf gefallene Feinde ausgegeben. Es sind bereits über 5000 Fälle bekannt geworden. So etwas ist keine Notwendigkeit des Krieges, sondern zeigt die vollkommene Entmenschlichung des Feindes. Um daran etwas zu ändern, brauchen wir eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Das geht weit darüber hinaus, was wir als Revolutionäre, als Guerillero oder Guerillera bewirken können. Um die dominanten Klassen in Kolumbien dazu zu bewegen, ihre Verantwortung für diese Taten anzuerkennen, brauchen wir eine große Bewegung, die sie dazu zwingt. Dazu konnte auch die FARC leider nicht viel beitragen. Dazu braucht es eine viel stärkere Bewegung, Macht. Und diese Stärke haben wir im Moment noch nicht.
Und wie bewerten Sie die Verhandlungen gegen einzelne Verantwortliche, die nun eventuell stattfinden können?
Das Problem ist nicht, ob einzelne Verantwortliche hinter Gitter kommen, sondern dass dieses Land von den gleichen Strukturen weiter regiert wird. Die Nichtanerkennung der Wahrheit führt dazu, dass dieselben an der Macht bleiben und weiterhin legitim regieren können.
Und nun?
Es geht darum, das Regime zu delegitimieren. Das hat die FARC versucht, das haben Menschenrechtsorganisationen und viele andere Gruppen und Organisationen immer wieder probiert. Was allerdings von dem Abkommen mit der FARC übrigbleibt, werden die Gerichtsprozesse gegen die FARC selbst sein. Ihre Taten werden verfolgt werden, aber die vielen anderen Menschenrechtsverletzungen werden nicht aufgedeckt und bestraft. Nun beschweren sich die Medien darüber, dass die Besitztümer der FARC nicht ausreichen, um die Opfer zu entschädigen. Dabei wird die Guerilla als Haupttäter im Konflikt dargestellt. Jedoch sind die Täter und Verantwortlichen für die abertausend Opfer die Besitzer der Medien. Das ist doch verkehrte Welt!
Kolumbiens Geschichte steht für viele gescheiterte Versuche, solche Machtverhältnisse zu ändern: Wie will die ELN mit dieser historischen Kontinuität brechen?
Für uns als Revolutionäre liegt die Lösung immer in unseren Händen. Wir müssen gemeinsam von unten gewinnen, Bedingungen schaffen, die den Kampf des Volkes begünstigen. Das ist der wertvollste Kampf und gleichzeitig der komplizierteste.
Sie kommen aus Deutschland. Zumindest hat Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren und die Macht ist nicht vollkommen übergangslos in den Händen derselben Menschen geblieben, obwohl sicherlich viele Täter unbescholten weiterleben und nie dafür bezahlt haben. Das faschistische System ist gefallen. Heute können Sie deswegen von der dunklen Vergangenheit sprechen, weil es immerhin einen Bruch gab. Hier gab es nie einen Bruch. Mehr noch: Die politische Elite ist gleichzeitig die wirtschaftliche Elite und im Besitz der Medien und Kommunikationsnetze. Sie schreiben die Geschichte. Um also wirklich etwas zu ändern, brauchen wir in Kolumbien eine Einheit unter den revolutionären Kräften, viel Kraft und müssen auf vielen Ebenen an Einfluss gewinnen.
Was ist dabei die Rolle der sozialen Bewegungen, der Menschenrechtsgruppen und auch der internationalen Organisationen?
Sie tragen viele kleine Sandkörner dazu bei, dass sich etwas ändern kann. Was Sie in Europa machen, in der UNO, trägt alles in der Summe etwas dazu bei. In diesem Sinne verstehen wir die aktuelle Phase der Verhandlung in Quito als einen Beitrag, diese kleinen Schritte anzuerkennen, aufzuzeigen und Menschen darin zu bestärken, ihr Sandkörnchen beizusteuern.
Zurzeit fordert die Regierung von uns greifbare Schritte der Wiedergutmachung als Bedingung zur Weiterführung der Verhandlung, die ihrer Meinung nach direkten Einfluss auf die Bevölkerung haben sollen. Aber wir fordern unsererseits, dass die Regierung staatlicherseits ihre Institutionen in den Dienst stellen muss. Um nur einige Punkte zu nennen, für die der Staat unserer Meinung nach konkret Verantwortung trägt: Die vermehrten Morde an Aktivist*innen, alleine in den vergangenen Monaten über 100, und die Expansion des Paramilitarismus. Bisher macht die Regierung nur Versprechungen, aber nichts, was Resultate zeigt. Stattdessen werden Wahrheitskommissionen verhindert. Dies nicht länger zu akzeptieren, ist nicht nur eine Aufgabe der Guerilla, sondern der gesamten Gesellschaft. Wir geben ein Beispiel für diese Form des Widerstands, das ist unser Sandkörnchen, das wir auf unserem Kampf hinterlassen.
Haben Sie ein Beispiel aus der dritten Phase der Verhandlungen in Quito? Was wird diese Phase bringen? Wir haben es geschafft, eine temporäre, bilaterale Waffenruhe zu erreichen. Dass uns dies gelang, hat auch unter anderem mit dem Papstbesuch zu tun. Wir haben alles daran gesetzt, einen Waffenstillstand zu verhandeln und diesen gemeinsam mit der Regierung zu verkünden. Allerdings wollen wir, dass dieser Waffenstillstand humanitäre Komponenten beinhaltet. Das bedeutet neben dem Verzicht auf den Einsatz von Kriegsstrategien gegen den Gegner vor allem eine Verpflichtung für die Regierung, ihren Umgang mit dem Paramilitarismus und der linken Opposition im Land zu verändern. Das hat sie bisher verweigert. Beide Parteien, also auch wir, haben sich aber dazu verpflichtet, innerhalb der Feuerpause humanitäre Aktionen durchzuführen. Über die möglicherweise erzielten Verbesserungen kann am Ende nur die betroffene Bevölkerung urteilen.
Mit Waffenstillstand lässt sich der Konflikt nahezu auf den Gebrauch der Waffen reduzieren. Bei der FARC wurde die Waffenruhe ja fast schon als Ende des Konfliktes umgedeutet. Ein Problem?
Es stimmt, dass die Regierung den Waffenstillstand bereits als Ergebnis der Verhandlungen und als Erfolg darstellt. Das sehen wir allerdings ganz anders, für uns ist das erst der Beginn. Wir haben noch nicht einmal den ersten Punkt der Agenda auf dem Tisch gehabt. Damit ist der Konflikt nicht gelöst, aber es verschafft vor allem der Bevölkerung in den konfliktreichen Regionen eine Atempause von den täglichen Schüssen und Explosionen. So wird es besser möglich sein, einen Dialog auch mit der Bevölkerung zu führen.
Und es ist eine große Herausforderung für Journalist*innen und Professor*innen, die Realität darzustellen. Das Monopol der Medien in Kolumbien haben wir gegen uns und wir wissen, dass die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung direkte Konsequenzen für die Machtverhältnisse hat. Das ist ein asymmetrischer Konflikt. Wir hören in den Medien nichts über soziale Proteste, Streiks oder Demonstrationen, auch wenn sie noch so massenhaft sind. Sprengt jedoch die Guerilla eine Ölpipeline in die Luft, regnet es nur so Beschuldigungen. Nun gut, es war ein Rohr, durch das Rohöl fließt, das unter sehr negativen Bedingungen für uns, das Volk, jedoch unter sehr positiven Bedingungen für multinationale Konzerne gefördert wurde. Wir werden vielleicht kein Gleichgewicht in der Berichterstattung schaffen, aber zumindest eine etwas bessere Aufklärung. Lassen Sie uns noch über eine mögliche Partizipation sprechen. Wie sehen Sie die Zukunft der ELN? Werden Sie im parlamentarischen System mitspielen? Das Ziel der Verhandlung zwischen uns und der Regierung ist der Verzicht auf Gewalt in politischen Auseinandersetzungen. Wenn seitens des Staates diese Veränderung vollzogen ist, suchen auch wir andere Wege. Üben die dominierenden Klassen jedoch weiterhin Gewalt aus, sehen wir uns gezwungen, weiterhin bewaffnet Widerstand zu leisten. Allerdings entscheiden wir das nicht alleine. Wir sind nur Mediatoren in einem sozialen und politischen Konflikt, wir müssen lernen, dass wir nicht die Hauptrolle in diesem Land spielen. Unser Ziel ist, dass das Volk die Macht übernimmt. Von diesem Volk sind wir nur ein kleiner Teil, deswegen setzen wir auf Einheit statt auf Fragmentierung innerhalb der Linken.
Und wie schätzen Sie die Bereitschaft der Bevölkerung zur Teilnahme ein? Nicht selten wird behauptet, dass in Kolumbien eine Politikverdrossenheit herrsche. Partizipation kann viele Gesichter haben. Seit den vergangenen zehn Jahren beobachten wir eine ansteigende Präsenz von Aktivist*innen und vielen Menschen im politischen Geschehen. Und das ist Partizipation: präsent sein. Das kann sich zum Beispiel in Demonstrationen oder Streiks ausdrücken. Im Jahr 2016 konnte der Agrarstreik eine Verhandlung mit der Regierung erreichen. Der Zivilstreik in Buenaventura, das ist direkte Partizipation. Das zwingt die dominanten Klassen zumindest dazu, die Bevölkerung wahrzunehmen, selbst wenn die Reaktion nur leere Versprechen beinhaltet. Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass die Menschen sich wieder auf die Straße trauen.