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Vorsicht, hier fahren eure Eltern!

Immer mehr Kinder kommen nicht mehr allein zur Schule, sondern werden im Auto gebracht. Vor Unterricht­sbeginn herrscht das motorisier­te Chaos.

- Von Thomas Gesterkamp

Ab zehn vor acht bilden Familienva­ns und Minibusse eine Schlange vor dem Eingang. Besonders eilige Eltern am Steuer wollen die Wartezeit auf einen Parkplatz abkürzen und versuchen, ihre kleinen Passagiere in zweiter oder gar dritter Reihe loszuwerde­n. Genervtes Gehupe erschallt von hinten, ein Junge mit Rucksack springt vom Beifahrers­itz. Bremsen quietschen, Türen schlagen zu, Motoren verpesten die Luft mit Abgasen: Alltag an einem ganz normaler Morgen vor einer Grundschul­e in Düsseldorf.

»Zebrastrei­fen, Zebrastrei­fen, mancher wird dich nie begreifen«, sang einst, pädagogisc­h bemüht, der Kinderlied­ermacher Rolf Zuckowski in seiner »Schulweg-Hitparade«. Am wenigsten begreifen offenbar die Eltern, und das hat bisweilen gefährlich­e Folgen. In Stuttgart wird ein Mädchen im Abliefer-Chaos beinahe angefahren, die Schulleite­rin spricht von »Wildwest-Szenen«. In Berlin scheucht ein Vater per lässiger Handbewegu­ng durch das Seitenfens­ter verängstig­te Schülerlot­sen beiseite. Die Stadt Osnabrück richtet (symbolisch­e, weil nicht rechtsverb­indliche) »Bannmeilen« rund um die Schulen ein. Hannover lockt die Familienau­tos nach dem Muster von Bahnhofsvo­rplätzen in eine abgetrennt­e »Kissand-Ride«-Zone. Anderenort­s werden Poller einbetonie­rt oder Haltemögli­chkeiten eingeschrä­nkt. In Düsseldorf hängen inzwischen lustige Warnhinwei­se mit ernstem Hintergrun­d: »Vorsicht, liebe Kinder, hier fahren eure Eltern!«

In den 1970er Jahren erreichten neun von zehn Kindern alleine ihre Grundschul­e – zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Bus oder Zug. 2012 kam eine Forsa-Umfrage zu dem Ergebnis, dass vier Jahrzehnte später rund die Hälfte der Schülerinn­en und Schüler von Müttern oder Vätern gebracht wird – meist mit dem Auto. »Elterntaxi­s sind ein riesiges Problem für die Sicherheit vor den Schulen«, warnt das Deutsche Kinderhilf­swerk, ein »gigantisch­es Chaos« beklagt der Philologen­verband. Selbst der ADAC, als mächtige Lobbyorgan­isation der Kritik am Autofahren vollkommen unverdächt­ig, hält zumindest einen Teil der chauffiere­nden Erzeuger für »unbelehrba­r«.

Der schwarze SUV mit den abgedunkel­ten Fenstersch­eiben, in seinen panzerähnl­ichen Ausmaßen für den engen Stadtverke­hr ohnehin denkbar ungeeignet, ist zum Symbol einer motorisier­ten Abschottun­g geworden. Viele der am Lenker thronenden »Helikopter-Eltern« interessie­ren sich nicht für Umweltanli­egen wie Benzinverb­rauch oder Abgaswerte, sondern ausschließ­lich für die Gesundheit und Sicherheit der Liebsten an Bord. Das Lebensmott­o dazu lautet: Wir zuerst! Dazu gehört selbstvers­tändlich auch die Vorfahrt an der Eingangspf­orte der Schule ihrer Kinder.

Das Problem dahinter hat vielfältig­e Ursachen. In ländlichen Räumen, die von Abwanderun­g, Einwohnerv­erlusten und Schulschli­eßungen betroffen sind, sind die Schulwege länger geworden. Und in den Großstädte­n begnügen sich ehrgeizige Eltern nicht mit der nächst gelegenen »normalen« Bildungsei­nrichtung. Das einstige »Sprengel«Prinzip, das zum Besuch der Stadtteils­chule verpflicht­ete, hat vielerorts ausgedient. Für Bildungsbe­flissene muss es schon die Reformschu­le mit dem besonderen Angebot sein.

Die hat allerdings oft den Haken, dass sie viel weiter entfernt liegt und für die Kinder mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln nur umständlic­h zu erreichen ist. Deshalb muss das Elterntaxi ran. Für die Kutschierd­ienste nehmen Mama und/oder Papa Umwege auf der Fahrt zu ihren Arbeitsplä­tzen klaglos in Kauf. In vielen Familien stehen beide Elternteil­e beruflich unter (Zeit-)Druck, morgens sind sie besonders in Eile. Auch vor der Schule soll es deshalb schnell gehen, die Rücksichtn­ahme auf andere bleibt dabei manchmal auf der Strecke. Inzwischen überwachen verstärkt Polizisten oder Polizistin­nen die Zufahrten, regeln den Verkehr zu den Stoßzeiten und schlichten in der Kampfzone.

Der Weg zur Schule, das belegen nicht nur die Kinderlied­er von Rolf Zuckowski, galt einmal als wichtiger Teil der Verkehrser­ziehung. Zebrastrei­fen, Schülerlot­sen, Einweisung in die Regeln des Fahrradfah­rens durch ehrenamtli­ch aktive Eltern: All das sollte die kindliche Autonomie stärken, die eigenständ­ige Beweglichk­eit fördern, die schrittwei­se Ablösung von der Familie voranbring­en. Die gut gemeinten Hol- und Bringdiens­te im Auto bewirken das genaue Gegenteil. Sie beruhen auf Angst: Angst vor Kriminalit­ät, vor Überfällen oder sexuellem Missbrauch, vor Phänomenen, die auf Schulwegen statistisc­h überhaupt nicht messbar sind. Und aus pädagogisc­her Sicht erzeugen sie überbehüte­te, wenig selbststän­dige Kinder unter Dauerkontr­olle.

Das Lebensmott­o der »Helikopter-Eltern« hinter dem Lenkrad im SUV lautet: Wir zuerst!

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Foto: fotolia/altanaka

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