Vorsicht, hier fahren eure Eltern!
Immer mehr Kinder kommen nicht mehr allein zur Schule, sondern werden im Auto gebracht. Vor Unterrichtsbeginn herrscht das motorisierte Chaos.
Ab zehn vor acht bilden Familienvans und Minibusse eine Schlange vor dem Eingang. Besonders eilige Eltern am Steuer wollen die Wartezeit auf einen Parkplatz abkürzen und versuchen, ihre kleinen Passagiere in zweiter oder gar dritter Reihe loszuwerden. Genervtes Gehupe erschallt von hinten, ein Junge mit Rucksack springt vom Beifahrersitz. Bremsen quietschen, Türen schlagen zu, Motoren verpesten die Luft mit Abgasen: Alltag an einem ganz normaler Morgen vor einer Grundschule in Düsseldorf.
»Zebrastreifen, Zebrastreifen, mancher wird dich nie begreifen«, sang einst, pädagogisch bemüht, der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski in seiner »Schulweg-Hitparade«. Am wenigsten begreifen offenbar die Eltern, und das hat bisweilen gefährliche Folgen. In Stuttgart wird ein Mädchen im Abliefer-Chaos beinahe angefahren, die Schulleiterin spricht von »Wildwest-Szenen«. In Berlin scheucht ein Vater per lässiger Handbewegung durch das Seitenfenster verängstigte Schülerlotsen beiseite. Die Stadt Osnabrück richtet (symbolische, weil nicht rechtsverbindliche) »Bannmeilen« rund um die Schulen ein. Hannover lockt die Familienautos nach dem Muster von Bahnhofsvorplätzen in eine abgetrennte »Kissand-Ride«-Zone. Anderenorts werden Poller einbetoniert oder Haltemöglichkeiten eingeschränkt. In Düsseldorf hängen inzwischen lustige Warnhinweise mit ernstem Hintergrund: »Vorsicht, liebe Kinder, hier fahren eure Eltern!«
In den 1970er Jahren erreichten neun von zehn Kindern alleine ihre Grundschule – zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Bus oder Zug. 2012 kam eine Forsa-Umfrage zu dem Ergebnis, dass vier Jahrzehnte später rund die Hälfte der Schülerinnen und Schüler von Müttern oder Vätern gebracht wird – meist mit dem Auto. »Elterntaxis sind ein riesiges Problem für die Sicherheit vor den Schulen«, warnt das Deutsche Kinderhilfswerk, ein »gigantisches Chaos« beklagt der Philologenverband. Selbst der ADAC, als mächtige Lobbyorganisation der Kritik am Autofahren vollkommen unverdächtig, hält zumindest einen Teil der chauffierenden Erzeuger für »unbelehrbar«.
Der schwarze SUV mit den abgedunkelten Fensterscheiben, in seinen panzerähnlichen Ausmaßen für den engen Stadtverkehr ohnehin denkbar ungeeignet, ist zum Symbol einer motorisierten Abschottung geworden. Viele der am Lenker thronenden »Helikopter-Eltern« interessieren sich nicht für Umweltanliegen wie Benzinverbrauch oder Abgaswerte, sondern ausschließlich für die Gesundheit und Sicherheit der Liebsten an Bord. Das Lebensmotto dazu lautet: Wir zuerst! Dazu gehört selbstverständlich auch die Vorfahrt an der Eingangspforte der Schule ihrer Kinder.
Das Problem dahinter hat vielfältige Ursachen. In ländlichen Räumen, die von Abwanderung, Einwohnerverlusten und Schulschließungen betroffen sind, sind die Schulwege länger geworden. Und in den Großstädten begnügen sich ehrgeizige Eltern nicht mit der nächst gelegenen »normalen« Bildungseinrichtung. Das einstige »Sprengel«Prinzip, das zum Besuch der Stadtteilschule verpflichtete, hat vielerorts ausgedient. Für Bildungsbeflissene muss es schon die Reformschule mit dem besonderen Angebot sein.
Die hat allerdings oft den Haken, dass sie viel weiter entfernt liegt und für die Kinder mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur umständlich zu erreichen ist. Deshalb muss das Elterntaxi ran. Für die Kutschierdienste nehmen Mama und/oder Papa Umwege auf der Fahrt zu ihren Arbeitsplätzen klaglos in Kauf. In vielen Familien stehen beide Elternteile beruflich unter (Zeit-)Druck, morgens sind sie besonders in Eile. Auch vor der Schule soll es deshalb schnell gehen, die Rücksichtnahme auf andere bleibt dabei manchmal auf der Strecke. Inzwischen überwachen verstärkt Polizisten oder Polizistinnen die Zufahrten, regeln den Verkehr zu den Stoßzeiten und schlichten in der Kampfzone.
Der Weg zur Schule, das belegen nicht nur die Kinderlieder von Rolf Zuckowski, galt einmal als wichtiger Teil der Verkehrserziehung. Zebrastreifen, Schülerlotsen, Einweisung in die Regeln des Fahrradfahrens durch ehrenamtlich aktive Eltern: All das sollte die kindliche Autonomie stärken, die eigenständige Beweglichkeit fördern, die schrittweise Ablösung von der Familie voranbringen. Die gut gemeinten Hol- und Bringdienste im Auto bewirken das genaue Gegenteil. Sie beruhen auf Angst: Angst vor Kriminalität, vor Überfällen oder sexuellem Missbrauch, vor Phänomenen, die auf Schulwegen statistisch überhaupt nicht messbar sind. Und aus pädagogischer Sicht erzeugen sie überbehütete, wenig selbstständige Kinder unter Dauerkontrolle.
Das Lebensmotto der »Helikopter-Eltern« hinter dem Lenkrad im SUV lautet: Wir zuerst!