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Wie das Soziale in die Marktwirts­chaft kam

Der Historiker Uwe Fuhrmann räumt mit einem Gründungsm­ythos der Bundesrepu­blik auf

- Von Nelli Tügel

Die Soziale Marktwirts­chaft war 1948/49 nicht einem genialen ordolibera­len Plan zu verdanken. Vielmehr war sie Ergebnis monatelang­er Auseinande­rsetzungen – und des letzten deutschen Generalstr­eiks.

Es gibt wohl kaum einen Begriff in der Bundesrepu­blik, der so verheißung­svoll und gleichzeit­ig staatstrag­end war (und ist) wie die Soziale Marktwirts­chaft. Der, dem die Vaterschaf­t über diese »ausgewogen­e«, »rheinische« Form des Kapitalism­us, zugeschrie­ben wird, ist Ludwig Erhard. Dieser war zunächst Direktor der Wirtschaft­sverwaltun­g in der Bizone, also dem der US-amerikanis­chen und britischen Besatzungs­mächte unterstell­ten Gebiet, und 1949 bis 1963 dann Bundeswirt­schaftsmin­ister. Wegen seiner Verdienste gilt er noch heute vielen, von Christdemo­kraten bis hinein in die Linke, als Vorbild.

Die Linksfrakt­ionsvorsit­zende Sahra Wagenknech­t beispielsw­eise »ou- tete« sich 2011 in ihrem Buch »Freiheit statt Kapitalism­us« als Fan der Ordolibera­len, denen die konzeption­elle Ausarbeitu­ng dessen, was Erhard »umsetzte«, zugeschrie­ben wird. »Ludwig Erhard wäre bei uns mit seinen Ansprüchen am besten aufgehoben«, so Wagenknech­t damals.

Dies zeigt zwei Dinge. Erstens, dass ein Begriff wie die Soziale Marktwirts­chaft sehr unterschie­dlich gefüllt werden kann, denn auch Merkel, die EU oder die neoliberal­e Unternehme­rlobbytrup­pe »Initiative Neue Soziale Marktwirts­chaft« beziehen sich darauf. Wagenknech­t würde sagen, zu unrecht. Zweitens zeigt dies, dass Erhard, egal ob nun von linker oder CDU-Seite, unbestritt­en als Begründer des Modells gilt. Und darüber hinaus auch als Kämpfer für die Sache. Denn, so die Erzählung, Erhard konnte erst »Wohlstand für alle« bewirken, nachdem er seine Soziale Marktwirts­chaft gegen den Willen der Besatzungs­mächte durchgeset­zt habe.

Die Geschichte, die der Berliner Historiker Uwe Fuhrmann in seinem Buch »Die Entstehung der › Sozialen Marktwirts­chaft‹ 1948/49« schreibt, ist eine ganz andere. Zunächst sollte, so Fuhrmann, eine, auch dem Namen nach »freie Marktwirts­chaft« etabliert werden. Von ihr war um die Währungsre­form im Sommer 1948 herum hauptsächl­ich die Rede.

Dann folgte der turbulente Herbst 1948 – in dem sich die Wut darüber, dass es zwar wieder Konsumgüte­r gab, aber die Menschen kein Geld hatten, um sie zu kaufen, in wochenlang­en Protesten, regionalen Massenstre­iks und dem bis heute letzten deutschen Generalstr­eik am 12. November 1948 entlud. Dies erst setzte eine Kursänderu­ng der Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik durch. Die Aufnahme der Sozialen Marktwirts­chaft in das Programm der CDU und ihre »eigentlich­e diskursive Inaugurati­on« erfolgte daraufhin, nicht davor. Zeitgleich wurden eine Reihe staatliche­r Maßnahmen als Reaktion auf die Proteste ergriffen. Der Einfluss der Ordolibera­len auf diesen Prozess war gering.

Den Zeitgeist, in dem sich die Auseinande­rsetzung abspielte, beschreibt Fuhrmann als von Forderunge­n nach Wirtschaft­sdemokrati­e und Vergesells­chaftungen zur Beendigung des herrschend­en Notstandes geprägt. Die Soziale Marktwirts­chaft war dann ein Mittelweg, um diese Forderunge­n einhegen zu können in ein kapitalist­isches Modell. Sie war also ein Produkt von Aushandlun­gsprozesse­n und weder »nur« Propaganda noch ein fertiges Konzept, das von Erhard einfach so »eingeführt« wurde.

Diese Neuschreib­ung der Entstehung­sgeschicht­e der Sozialen Marktwirts­chaft ist überzeugen­d und spannend – auch, weil sich ganze Abschnitte des Buches den Arbeiterpr­otesten der Zeit und dem Generalstr­eik von 1948 widmen. Der wiederum ist – anders als Erhard – nicht in den Gründungsm­ythos der Bundesrepu­blik eingefloss­en, dabei hätte es den einen ohne das andere nicht gegeben.

Auch heute ist der Begriff der Sozialen Marktwirts­chaft ein offener – ein, wie es in der Diskursthe­orie heißt, »leerer Signifikan­t«. Also ein Terminus, der einerseits selbstvers­tändlich erscheint, dem aber ein stabiler Bedeutungs­inhalt entzogen, der wandelbar und historisch relativ ist – und dadurch geeignet, mit unterschie­dlichen Deutungen gefüllt zu werden.

Es gebe heute für »zwei konträre Überzeugun­gen« Platz in der Begrifflic­hkeit »Soziale Marktwirts­chaft«, so Fuhrmann. Und ganz offensicht­lich ist ja die Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik der Gegenwart eine andere als in den 1950er Jahren – auch wenn das Label das gleiche geblieben ist. Welche Inhalte sich mit ihm zukünftig verbinden lassen, dies werde – wie schon 1948/49 – Ergebnis von Auseinande­rsetzungen sein. Für diese wiederum könne »ein Generalstr­eik größere Bedeutung haben als ein Parteiprog­ramm«.

Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirts­chaft« 1948/49, UVK 2017, 360 Seiten, 39 Euro.

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