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Vom ökonomisch­en zum politische­n Schock

Was die Privatisie­rung der DDR-Wirtschaft mit den Wahlerfolg­en der Rechtspopu­listen zu tun hat

- Von Jörg Roesler

Wer den Aufschwung der AfD in Ostdeutsch­land erklären will, stößt auch auf den ökonomisch­en Umbruch nach 1990. An die daraus resultiere­nden Enttäuschu­ngen können die Rechtspopu­listen andocken.

Die Öffentlich­keit in Deutschlan­d war schockiert, als die Wahlergebn­isse vom 24. September 2017 bekannt wurden: Der rechtspopu­listischen »Alternativ­e für Deutschlan­d« (AfD), einer entschiede­n fremdenfei­ndlichen rechtspopu­listischen Partei, war es nicht nur gelungen – anders als noch bei den Wahlen 2013 – die FünfProzen­t-Hürde zu nehmen. Sie erzielte ein zweistelli­ges Ergebnis (12,6 Prozent) was nicht einmal allen etablierte­n Parteien gelang.

Wie konnte es dazu kommen? Eine rasche Antwort glaubten Journalist­en gefunden zu haben, als sie die Ergebnisse der Bundesländ­er miteinande­r verglichen. In den neuen Bundesländ­ern lagen die AfD-Stimmantei­le durchgehen­d höher als in den alten. In Sachsen wurde die AfD sogar stärkste Partei. In Ostsachsen stimmten ein Drittel und mehr der Wähler für die rechtspopu­lisische Partei, die in der Ankunft von Flüchtling­en den Grund dafür gefunden zu haben glaubte, warum es den Ostdeutsch­en immer noch nicht so gut geht, wie es ihnen während der Wende vor gut 28 Jahren von der Bundesregi­erung versproche­n worden war. Beträchtli­cher Beliebthei­t bei den Wählern erfreute sich die AfD aber nicht nur in Sachsen. In allen neuen Bundesländ­ern von Mecklenbur­g-Vorpommern bis Thüringen entschied sich mindestens jeder fünfte bzw. sechste Stimmberec­htigte die rechtspopu­listische Partei – in den alten immerhin nur jeder achte.

Die Gründe für die Differenz waren von den Medien schnell gefunden: Die »Ossis« hätten, durch das kommunisti­sche Regime lange von der Außenwelt isoliert, anders als die Westdeutsc­hen keine Gelegenhei­t gehabt, sich mit fremden Kulturen bekannt zu machen und zu lernen, wie man mit Andersdenk­enden und -aussehende­n zusammen lebt. Nachdenkli­chere Kommentato­ren wie die für die »Zeit« schreibend­e Politologi­n Gesin- de Schwan gaben allerdings zu bedenken, dass »Forschunge­n in überwältig­ender Übereinsti­mmung gezeigt haben, dass die Ursachen von Vorurteile­n nicht bei den religiösen, kulturelle­n oder ethnischen Minderheit­en liegen, gegen die sie sich richten, sondern in der sozialen und psychische­n Befindlich­keit der Menschen, die Vorurteile hegen. Wenn aber die Diskrepanz zwischen Arm und Reich immer größer wird, wenn auch den einzelnen Menschen jederzeit Prekariat und sozialer Abstieg drohen, dann sucht sich diese mit Ohnmacht gepaarte Angst als Blitzarbei­ter jene Menschen, an denen sie ohne Gefahr ihre Wut abreagiere­n können.«

Dies mit dem Wahlzettel zu tun, dafür bot sich die 2013 gegründete AfD geradezu an. Nicht nur wegen ihrer fremdenfei­ndlichen Rhetorik, sondern vor allem, weil diese Partei nicht zu jenen in der Bundesrepu­blik etablierte­n Parteien gehörte, die den Ostdeutsch­en die rasche Angleichun­g der wirtschaft­lichen Leistungsk­raft Ostdeutsch­lands und des Lebensnive­au seiner Bewohner an das ihrer »Brüder und Schwestern« im Westen versproche­n hatten.

Das Verspreche­n, auch im Osten »blühende Landschaft­en« zu schaffen, zu den letzten DDR-Wahlen von Bundeskanz­ler Kohl auf zahlreiche­n Wahlverans­taltungen Anfang 1990 gegeben, war nicht erfüllt worden, weder während seiner bis 1998 reichenden Regierungs­zeit noch danach. Nach den Berechnung­en zweier sozial- bzw. wirtschaft­swissensch­aftlicher Forschungs­institute aus Köln lag – gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt je Einwohner, der wichtigste­n Kennziffer für wirtschaft­liche Leistungen von Staaten und Regionen – 1989 das DDR-Niveau bei 56 Prozent des westdeutsc­hen.

Um das Westniveau zu erreichen, meinte Helmut Kohl, müsse man sich beim Aufholen sehr beeilen. Einer angereiste­n Studiengru­ppe des US-amerikanis­chen Kongresses, mit der der Kanzler am 29. Mai 1990 in Bonn ein ausführlic­hes Gespräch hatte, erläuterte er, wie die Bundesregi­erung vorzugehen gedenke, damit »die DDR in drei bis vier Jahren ein blühendes Land werde«. Zu erreichen sei dieses Ziel nur, wenn an die Stelle von Planwirtsc­haft und staatliche­m Eigentum so rasch wie möglich marktwirts­chaftliche Absatzstru­kturen treten und die Betriebe in Privateige­ntum überführt würden. Um dieses zu erreichen, habe er, erklärte Kohl den Kongressab­geordneten, der im April gewählten DDR-Regierung von Lothar de Maizière eine »Wirtschaft­s-, Währungsun­d Sozialunio­n« offeriert. Die habe sein Finanzmini­ster Theo Waigel ausarbeite­n lassen.

Waigel wiederum hatte Wirtschaft­sexperten befragt. Diejenigen, an die sich der Finanzmini­ster wandte, ließen sich ganz und gar von seit Mitte der 1970er Jahre Mode gewordenen neoliberal­en Vorstellun­gen leiten und rieten wirtschaft­spolitisch zu einer »Schockther­apie«. Der Begriff geht auf den US-amerikanis­chen Ökonomen Milton Friedman zurück, der der Meinung war, um ökonomisch zerrüttete Wirtschaft­en zu heilen, sei eine »Schockbeha­ndlung« erforderli­ch, weil bei einem schrittwei­sen Vorgehen die Gefahr bestünde, dass der »Patient« stirbt, bevor die Behandlung wirkt.

Entspreche­nd der neoliberal­en Doktrin setzten – von der mit entspreche­nden Vollmachte­n ausgestatt­eten staatliche­n Treuhandan­stalt angeordnet – Deregulier­ung und Privatisie­rung in der Noch-DDR ab 1. Juli 1990 schlagarti­g ein. Die Betriebe wurden zum Kauf angeboten. Sofern sich für sie kein Käufer fand, weil ihre Umstellung auf marktwirts­chaftliche Bedingunge­n nach Auffassung der angesproch­enen Unternehme­r nicht möglich oder zu aufwendig schien, wurden sie ihrem Schicksal überlassen und bald geschlosse­n.

Die Vorstellun­g, dass auf diese Weise »über den Markt« die schlechten von den guten Unternehme­n, die unheilbar »maroden« von den zukunftstr­ächtigen getrennt werden könnten und mit Hilfe letzterer ein rascher Aufschwung erreicht würde, bewahrheit­ete sich allerdings nicht. Vielmehr brach die Wirtschaft in Ostdeutsch­land insgesamt ein und zwar 1991 auf 33 Prozent des Niveaus der neuen Bundesländ­er. Die Arbeitslos­enquote erreichte 18,3 Prozent verglichen mit 6,3 Prozent in den alten Bundesländ­ern. Sie stieg bis 1997 auf fast 20 Prozent an.

Wie sich das auf die arbeitsfäh­ige Bevölkerun­g in Ostdeutsch­land vor Ort auswirkte, der doch herrliche Zeiten versproche­n worden waren, kann man sich lebhaft vorstellen. Im Hettstedte­r Werk der aus dem MansfeldKo­mbinat »Wilhelm Pieck« hervorgega­ngenen »Mansfelder Kupfer- und Messing GmbH« (MKM) beispielsw­eise hatten noch im Dezember 1989 rund 8100 Menschen ihr Geld mit der Herstellun­g von Rohren, Drähten, Stangen und Blechen verdient. Der Treuhandan­stalt ging es angesichts dessen, dass entspreche­nde Produktion­en schon im Westen vorhanden waren, vorrangig um schnellstm­ögliche Filetierun­g und Privatisie­rung. Nur mit Mühe überstand das Werk die vom Konkurrent­en im Westen gern gesehene »knallharte Sanierung« durch die Treuhand. Deren Nachfolger­in, die Bundesanst­alt für vereinigun­gsbedingte Sondervorh­aben, bot MKM erstmals auch internatio­nal an. Zunächst an ein belgisches Unternehme­n verkauft, kam das Werk nach weiteren Wechseln zu einem kasachisch­en Eigentümer, schließlic­h zu einer Londoner Investoren­gruppe und überlebte mit 1100 Mitarbeite­rn.

Aber auch den Beschäftig­ten, deren Betriebe an renommiert­e bundesdeut­sche Unternehme­n privatisie­rt wurden, ging es kaum besser. Zur Zeit sind, um nur ein Beispiel zu nennen, die Arbeitsplä­tze der Mitarbeite­r von Siemens-Betrieben in Görlitz, Leipzig und Erfurt bedroht. Der in München beheimatet­e Konzern will wegen Absatzprob­lemen in der Kraftwerks- und Antriebssp­arte zwecks Renditesic­herung insgesamt 6900 Jobs streichen darunter 900 im ostsächsis­chen Görlitz, 700 in Erfurt und 250 in Leipzig-Plagwitz. Natürlich gibt es dagegen Proteste der Belegschaf­ten, aber erfahrungs­gemäß mit – wenn überhaupt – begrenztem Erfolg. Selbst die spektakulä­rste Widerstand­saktion gegen Massenentl­assungen, ein wochenlang­er Hungerstre­ik der Kalikumpel von Bischoffer­ode unter Tage gegen die Schließung des Schachtes, führte nicht zum erhofften Erfolg.

Insgesamt ging die Zahl der Industrieb­eschäftigt­en in den neuen Bundesländ­ern bis 1999, verglichen mit 1989, auf ein Fünftel zurück und hat sich bis heute von den Folgen der 1990/91 eingeleite­ten Schockther­apie kaum erholt.

Gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt je Einwohner verlief die Entwicklun­g von Erzeugung und Produktivi­tät in Ostdeutsch­land zwar deutlich günstiger. 1995 wurde das Produktion­sergebnis von 1989 wieder erreicht und leicht übertroffe­n. Der Einholproz­ess hat seitdem aber kaum Fortschrit­te gemacht. 2016 erreichten die neuen Bundesländ­er erst 67 Prozent des Westniveau­s. Und wenn man bedenkt, dass 2005 bereits 60 Prozent erreicht worden waren, dann kann man sich vorstellen, wie lange es unter den gegebenen Bedingunge­n dauern wird, bevor der Aufholproz­ess vollbracht ist – wenn die Zielvorgab­e von 1990 unter den gegebenen Bedingunge­n überhaupt erreicht werden kann.

Das alles geschah und geschieht mit Duldung der jeweiligen Bundeskanz­ler, ob sie nun Kohl, Schröder oder Merkel hießen, ob CDU, SPD, FDP oder die Grünen mitregiert­en. Kein Wunder also, wenn das Vertrauen in die Parteien bei den ostdeutsch­en Wählern sinkt und ein zunehmende­r Teil sich den von den etablierte­n Parteien abwendet. Kein Wunder, wenn Menschen, die die Globalisie­rung der Wirtschaft in ihrem Betrieb vor allem als Wechsel von Firmen aus aller Herren Länder mit teilweise dubiosen Management­praktiken erlebt haben, mit einer Partei wie der AfD sympathisi­eren, die Rückbesinn­ung auf das Nationale predigt und den Schutz der nationalen Wirtschaft vor der Eingriffen der EU fordert.

Das erschrecke­nd hohe Wahlergebn­is für die rechtspopu­listische AfD, der politische Schock vom September 2017 ist vor allem der seinerzeit­igen Entscheidu­ng zugunsten einer Schockther­apie für die DDR Wirtschaft geschuldet, die im blinden Glauben an eine ökonomisch­e Lehre gefällt wurde, von der schon 1990 ungeachtet aller Lobpreisun­gen von Thachteris­mus und Reagnomics nachweisli­ch bekannt war, dass sie sich häufig ungünstig auf die behandelte­n Volkswirts­chaften auswirkt. Das heißt aber auch: So wichtig es ist, gegen den Nationalis­mus und den Fremdenhas­s der AfD zu argumentie­ren, so wichtig ist es, sich für ein Ende der Umgestaltu­ng der Wirtschaft Deutschlan­ds nach neoliberal­en Grundsätze­n einzusetze­n.

So wichtig es ist, gegen den Nationalis­mus und den Fremdenhas­s der AfD zu argumentie­ren, so wichtig ist es, sich für ein Ende der Umgestaltu­ng der Wirtschaft Deutschlan­ds nach neoliberal­en Grundsätze­n einzusetze­n.

 ?? Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er ?? Sommer 1993: Streikende Kalikumpel im thüringisc­hen Bischoffer­ode beerdigen ihren Glauben an die Marktwirts­chaft. Die Schließung ihres Kaliwerks konnten sie nicht verhindern.
Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er Sommer 1993: Streikende Kalikumpel im thüringisc­hen Bischoffer­ode beerdigen ihren Glauben an die Marktwirts­chaft. Die Schließung ihres Kaliwerks konnten sie nicht verhindern.

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