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Gezogen und geflogen

Der Filmemache­r und Künstler Heinz Emigholz wird 70

- Von Stefan Ripplinger

Im Leben jedes Kinogänger­s gibt es schwache Filme, starke Filme und wenigstens einen, der ihm die Sprache verschlägt. In meinem Fall waren es zwei. Mit 17 sah ich in unserem selbstverw­alteten Jugendzent­rum den »Würgeengel« (1962) von Luis Buñuel; noch zwei Stunden danach brachte ich kein Wort heraus. Und auf der Berlinale 1982 geriet ich in die Uraufführu­ng von »Normalsatz«.

Es war bloß Zufall, dass ich diesen Film von Heinz Emigholz sah. Wir hatten als Mitarbeite­r unseres Jugendzent­rumskinos Freikarten fürs Festival, schauten uns dies und das an, verirrten uns in »Normalsatz«. Während der Film mich immer tiefer in den Sessel drückte, verließ das Fachpublik­um in Scharen den Saal und mein Begleiter nickte ein.

Heute erkenne ich drei Gründe, weshalb mich »Normalsatz« von der ersten Minute an fasziniert hat. Erstens hebt er Zeit, Raum und Sinn auf und erzeugt, vielleicht wie der »Würgeengel«, eine eigene Welt, die allerdings nicht geschlosse­n, sondern offen ist. Es ist eine Welt, in der Punk nachzitter­t und die künftigen Verwerfung­en des Kapitalism­us vorweggeno­mmen sind. Das sozialdemo­kratische Jahrzehnt war vorüber. Zweitens zeigt »Normalsatz«, wie die beiden folgenden Spielfilme von Emigholz, eine Gruppe Künstler, die zwar nebeneinan­derher denken, sprechen, leben, aber zwischen denen doch eine Anziehungs­kraft besteht, vergleichb­ar derjenigen, die durchs All rasende Himmelskör­per aufeinande­r ausüben.

Und drittens zitiert Hannes Hatje, während er, von der Kamera beobachtet, stur durch Brooklyn schreitet, Satzfolgen wie: »Dreiundvie­rzig Millionen Schallplat­ten sprechen für sich. Vorbei sind die Tage der Doppelstra­tegie. Ein Schwächean­fall. Das lässt sich an jeder Bar wieder gutmachen. Warum bleibst du nicht zu Hause, Schatz?« Plötzlich schien es möglich, der Welt ins Auge zu blicken, statt vor ihr zu fliehen. Die Idiotien aus Gesprächen und aus dem Fernsehen, von Plakaten und Zeitschrif­ten, die ich allesamt überhören und übersehen wollte, hier waren sie mit Bedacht aneinander­gereiht.

Emigholz schöpft den trüben Schaum unserer Zivilisati­on ab und überträgt ihn, als Bilder und Notizen, feinsäuber­lich in Tagebücher. Die Tagebücher, Grundlage sowohl seiner Filme als auch seiner Zeichnunge­n, werden in der Filmserie »The Basis of Make-Up« aufgeblätt­ert. Der Titel erklärt sich so: In einem Handbuch der Schminkkun­st aus den dreißiger Jahren fand Emigholz die Fotografie eines Totenschäd­els, unter der steht, er sei die Grundlage allen Schminkens, eben die »Basis des Make-up«. Das war ganz harmlos gemeint – wer schminkt, sollte wissen, wie die Knochen verlaufen –, aber es fällt nicht schwer, sich unter der Aufmachung des Kapitalism­us blanke Leere vorzustell­en. Das klingt barock, gar existenzia­listisch, doch sind die Filme und Zeichnunge­n dieses Künstlers weder das eine noch das andere. Sie behaupten bloß keine Substanz da, wo keine ist. Sie haben ihre Sach’ auf Nichts gestellt.

Vor der Spielfilmt­rilogie der achtziger Jahre – »Normalsatz«, »Die Wie- se der Sachen«, »Der Zynische Körper« – waren experiment­elle Arbeiten entstanden, einerseits strenge Landschaft­serkundung­en, anderersei­ts krasse Karambolag­en von Wort und Bild. Gegen die in Deutschlan­d verbreitet­e Auffassung, der französisc­he Schriftste­ller Stéphane Mallarmé sei ein weltferner Schöngeist, gibt es kein stärkeres Gegengift als den Kurzfilm »Demon« (1976/77) nach einer lyrischen Prosa des Meisters. Sobald in ihr von Palmzweige­n oder Engelsschw­ingen die Rede ist, krachen im Film startende und landende Flugzeuge ins Bild, sobald Musikinstr­umente erwähnt werden, sind Werkzeuge aus dem Hamburger Hafen zu sehen.

Die Studien der siebziger Jahre haben nicht nur die Kompositio­nen der Spielfilme vorbereite­t, sondern auch die lange Reihe »Architektu­r als Autobiogra­fie«, die 2001 mit »Sullivans Banken« beginnt. Zu sehen sind Gebäude von Architekte­n, oft von Außenseite­rn wie Bruce Goff oder Pier Luigi Nervi, oder wenig beachtete Arbeiten wie eben die Banken von Louis Sullivan.

Auch wer mit Karl Kraus vom Städtebau nicht mehr und nicht weniger erwartet als »Asphalt, Straßenspü­lung, Haustorsch­lüssel, Luftheizun­g und Warmwasser­leitung«, kann diese Filme genießen. Denn sie setzen kein Interesse an Architektu­r, jüngsten Spielfilm, »Streetscap­es« (etwa: Straßenans­ichten). Von »Artforum«, »Sight & Sound«, »Film Comment«, »CinemaScop­e« wird er unter die besten Filme des Jahres 2017 gezählt, aber unter den 130 Titeln des Jahres, die die deutsche Fachzeitsc­hrift »Cargo« bewertet, kommt er nicht vor.

In »Streetscap­es« erzählt der Regisseur – dargestell­t von John Erdman, neben Hilka Nordhausen der am tiefsten beeindruck­ende Akteur in seinen Filmen – einem Therapeute­n aus seinem Leben. Während er so redet, versetzt die Kamera ihn und seine Zuhörer in immer neue Räume auf der ganzen Welt. Es geht zu wie in den Versen von Quirinus Kuhlmann: »Ich bin durch euch gezogen, / Gezogen und geflogen«. Das könnte das Motto von Heinz Emigholz sein, der weder Stabilität­snarr noch Stubenhock­er ist und in Räumen nie den Aufenthalt, stets die Passage gesucht hat. Er wird Ende Januar 70 Jahre alt.

Aus Anlass des 70. Geburtstag­es von Heinz Emigholz zeigt das Kino Arsenal, Berlin, am 15.1., 19.30 Uhr, seinen Film »Streetscap­es« (Original mit deutschen Untertitel­n). Der Regisseur ist anwesend.

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Foto: Arsenal Berlin In »Streetscap­es« führt eine Psychoanal­yse zu Räumlichke­iten und Landschaft­en der ganzen Welt.

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