Die Augen verlassen die zentraleuropäische Perspektive und blicken über Wien, Paris, London, Mailand, Prag, Warschau hinaus.
leidenschaftlich. In gleicher Weise überzeugten auch die restlichen Wiedergaben, so Ravels Orchesterfassung »Alborado del gracioso« (Nr. 4 aus »Miroire«) mit ihren unerhört lebendigen rhythmischen Impulsen und dem carmenesken Ende. Verse von Charles Baudelaire und anderen französischen Schriftstellern beschäftigen die »Vier Lieder« von Henri Duparc, hochdifferenzierte, orchestrierte Vokalmusik eines viel zu früh durch Krankheit kompositorisch zum Schweigen gebrachten Komponisten. Véronique Gens sang die melodiebetonten, vollkommen durchgefühlten Lieder makellos.
Dann kamen die Russen dran. Gleich dem brüllenden Tiger, der nicht aufhört zu fliegen, hebt die Musik der »Johannesnacht auf dem kahlen Berge« von Mussorgsky an und wühlt sich durch einen Reigen slawischer Tänze hindurch bis hin zum den Quintenzirkel aufwirbelnden, die Metren schüttelnden Finale. Höhepunkt Skrjabins berühmtes »Poé- me de l’extase«. Der Erfinder der »Farbenmusik« schuf sie nicht aus irgendwelchen obsessiven Zuständen heraus, sondern aus klaren strukturellen Überlegungen. Ein gewaltiges symphonisches Opus, gespickt mit Farben á la Claude Debussy und Aufgipfelungen, die zusammenbrechen, als hätte sie Gustav Mahler formuliert. Hierin spiegeln sich die Traditionen von Ost und West in der Musik wechselseitig.
Keineswegs regieren im Klassikbetrieb immer die gleichen Götter wie Bach, Mozart, Beethoven, Schumann, Bruckner, Strauss, allenfalls Schönberg – Schluss. Die Konstellationen, Programme zu gestalten, sind wie die im Kompositionsprozess unendlich – vorausgesetzt, die Augen verlassen die zentraleuropäische Perspektive und blicken über Wien, Paris, London, Mailand, Prag, Warschau hinaus.
Musik verbindet, das zeigte auch dieser Abend. Mit einem einzigen Strich kann zusammenkommen, was die Wirklichkeit etwa dem Kontinent Europa vorenthält: Russland – Frankreich, Paris – Petersburg, das geht zusammen.