Fakt und Fake
Eine Sprachjury bestimmte das Unwort des Jahres 2017: »Alternative Fakten«
Berlin. Erinnern Sie sich noch an die Amtseinführung von Donald Trump? Am 20. Januar 2017, vor fast einem Jahr, als der neue US-Präsident den Amtseid ablegte, wollten das so viele Zuschauer vor Ort verfolgen wie nie zuvor. Behauptete jedenfalls Trumps Pressesprecher. Dass Fotos von der Vereidigung des Amtsvorgängers Barack Obama vier Jahre zuvor das Gegenteil bewiesen, juckte die Trump-Mannschaft nicht. Seine Beraterin Kellyanne Conway erfand zur Verteidigung der dreisten Trump-Version den ebenso genialen wie perfiden Begriff »alternative Fakten«.
Diese Formulierung machte seitdem eine rasante Karriere in der Auseinandersetzung um Wahrheit und Meinungshoheit, vor allem in den Sozialen Netzwerken. Deshalb wurde sie am Dienstag von einer Sprachjury zum Unwort des Jahres 2017 erklärt. Der Begriff stehe, so die Begründung, »für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen«. Die Sprache kennt dafür zahlreiche Synonyme: Unsinn, Quatsch, Mumpitz, Fake News, Nonsens, Blendwerk, Hirngespinst, Lüge ... Im Bundestag sitzt jetzt sogar eine Partei, die das zum Markenkern erkoren hat: die – Alternative-Fakten-Partei Deutschlands.
Zur gedanklichen Hygiene des Intellektuellen gehört es, sich ständig darüber zu vergewissern, was sagbar und was unsagbar ist. Sprache ist Ausfluss des Denkens, ihr Rohstoff sind die Wörter und Begriffe. Dass es das Unwort des Jahres erst seit 1991 gibt, ist kein Zufall. In Zeiten des Kalten Krieges war der sprachliche Übergriff, die gedankliche Übersprungshandlung quasi System; die Sprache des Politischen war im persönlichen Umgang roher als heute. Gleichzeitig galten Tabus; sprachliche Gleichsetzungen des industriell betriebenen Massenmordes an den europäischen Juden (wahlweise Shoah oder Holocaust genannt) in politischen Debatten etwa mit der Haltung von Tieren (»KZ-Hühner«) oder in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs (»Baby-Holocaust«) waren nicht nur sprachlich sanktioniert, sie zogen den Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs nach sich.
Es muss eine Vorahnung der kommenden Entwicklungen gewesen sein, die 1991 Sprachwissenschaftler und andere mithilfe der Sprache öffentlich Tätigen (Journalisten) dazu motivierte, das erste »Unwort des Jahres« zu küren. Es lautete: »Ausländerfrei«. Mit der Wahl eines Unwortes, so verlautbart die Jury seitdem jedes Jahr im Januar, solle ein Begriff gekürt werden, der gegen das »Prinzip der Menschenwürde« oder gegen »Prinzipien der Demokratie« verstoße, weil er gesellschaftliche Gruppen diskriminiere oder »euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend« sei. Es folgten unter anderem: »Ethnische Säuberung«, »Überfremdung«, »Peanuts«, »Wohlstandsmüll«, »Sozialverträgliches Frühableben« oder »Gotteskrieger«. Manche Begriffe erklären sich in ihrer Unmenschlichkeit von selbst, andere wie »Peanuts« nur
Das »Unwort des Jahres« soll ein Damm gegen das Unmenschliche sein.
aus dem Kontext (Mit »Peanuts« bezeichnete 1994 der damalige Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, den Schaden, der den von Immobilien-Pleitier Jürgen Schneider beauftragten Handwerkern entstanden war).
Wie gesagt, es muss eine Vorahnung gewesen sein, mit Beginn der neuen Zeit eine symbolische Abwehr gegen den Dammbruch im gesellschaftlichen Diskurs zu errichten. Spätestens mit dem Aufkommen der AfD hierzulande, mehr aber noch durch die Erschütterung des politischen Systems in den USA mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten wird das Unsagbare nicht nur sagbar, es entzieht sich immer mehr der eindeutigen Zu- und Zurechtweisung. Sind manche ausgewählten Unwörter wie etwa 2016 »Volksverräter« oder 2000 »National befreite Zonen« unzweifelhaft dem Urgrund rechter politischer Denkweisen zuzurechnen, entstammen Begriffe wie »Gutmensch« (2015), »Lügenpresse« (2014) oder auch die für 2017 gekürte Bezeichnung »Alternativen Fakten« längst nicht mehr nur dem Vokabular der Rechten.
Im Zeitalter der digitalen Medien, die Realität formen und scheinbar auch beliebig umformen können, gelten Fakten manchen nicht mehr als Tatsachen, sondern als verhandelbare Eventualitäten. Man googele einmal nach »9/11« oder »Anschlag Berliner Weihnachtsmarkt«, jeweils mit dem Zusatz »False Flag«.