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»Ohne Dialog kommen wir nicht weiter«

Marie Kapretz von der Republikan­ischen Linken ERC über die Lage in Katalonien vor der Parlaments­eröffnung

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Am 17. Januar tritt das neu gewählte katalanisc­he Parlament erstmals zusammen. Ist damit ein Ende der Zwangsverw­altung nach Artikel 155 durch Spanien, das die Wahlen am 21. Dezember angeordnet hatte, in Sicht?

Im Prinzip ja, in der Praxis nein. Nach dem Verständni­s der katalanisc­hen Regierung hätte dieser Artikel 155 schon direkt nach den Wahlen am

21. Dezember aufgehoben werden sollen. Viele sind hier sehr überrascht, dass es noch nicht passiert ist. Die Hoffnung, dass es dann nach dem

17. Januar so weit sein wird, besteht, ist aber realistisc­herweise nicht so groß. Es gibt keine Anzeichen der von der rechten Volksparte­i PP geführten Madrider Zentralreg­ierung, die darauf deuten. Die PP hatte alles darauf gesetzt, dass die sogenannte schweigend­e Mehrheit der Unionisten, die den Unabhängig­keitsproze­ss ablehnen, bei den Wahlen gewinnt. Nach dem erneuten Sieg des Unabhängig­keitslager­s ist die PP perplex. Das Heft des Handelns möchte sie nicht abgeben. Deswegen hält die PP-Minderheit­sregierung am Artikel 155 fest, da er ihr die absolute Macht über alle Institutio­nen in Katalonien verleiht.

Vor der Wahl des katalanisc­hen Präsidente­n steht diesen Mittwoch erst mal die Wahl eines Parlaments­präsidente­n oder einer -präsidenti­n an. Acht der gewählten Abgeordnet­en aus den Reihen der Unabhängig­keitsparte­ien JuntsCat (JxCat) und Republikan­ische Linke ERC sitzen entweder in Untersuchu­ngshaft oder sind im Exil. Sind sie nicht anwesend, geht die knappe absolute Mehrheit verloren. Der Unabhängig­keitsblock, dem neben JxCat und ERC die linksradik­ale CUP angehört, kommt mit 70 der 135 Sitze auf zwei Sitze über die absolute Mehrheit von 68 Sitzen. Wie wirkt sich das aus?

Das ist trist. Wir sind alle ein bisschen unter Schock, dass es so weit gekommen ist, dass zum Beispiel der ERCSpitzen­kandidat Oriol Junqueras, der ehemalige Innenminis­ter Joaquim Forn und Jordi Sànchez von JxCat nach wie vor in Untersuchu­ngshaft sitzen – mitten in Europa. Da werden gewählte Abgeordnet­e festgehalt­en – ich kann dazu nur Geiselhaft sagen –, weil es eben nicht gewünscht ist, dass sie an der Abstimmung teilnehmen. So wird der Wählerwill­e missachtet, wenn diejenigen, die abstimmen müssten und den Auftrag der Wähler dafür haben, einfach festgehalt­en werden. Dass auf EU-Ebene dazu kein Protest zu vernehmen ist, darüber bin ich entsetzt. Der abgesetzte katalanisc­he Präsident Carles Puigdemont weilt im belgischen Exil. Von dort aus will er sich per Videoschal­te wählen lassen. Am 31. Januar muss der Kandidat für die Präsidents­chaft sein Programm im Parlament vorstellen. Machbar?

Ja, aber es wird wieder sehr spannend werden. Internatio­nal gibt es zum Beispiel einen Präzedenzf­all: Ein Bürgermeis­ter in Alaska wurde per Videokonfe­renz vereidigt, weil er auf Reisen war. Es ist nirgendwo ausdrückli­ch verboten. Wie es dann letztlich läuft, ob per Video oder ob Puigdemont von einem Delegierte­n vertreten wird, das werden wir sehen.

Marie Kapretz ist gebürtige Berlinerin und lebte 22 Jahre in Katalonien, bevor sie Anfang 2016 nach Berlin zurückkehr­te, um die Leitung der Vertretung der katalanisc­hen Regierung in Deutschlan­d zu übernehmen. Kapretz wurde Ende Oktober wegen der Unabhängig­keitserklä­rung Katalonien­s von Spanien beurlaubt. Über die Situation in Katalonien vor der ersten Parlaments­sitzung am 17. Januar sprach mit ihr für »nd« Martin Ling. Spaniens Außenminis­ter Alfonso Dastis hat am vergangene­n Wochenende erneut eine Rückkehr von Puigdemont ins Amt ausgeschlo­ssen. Geht das Patt und damit die politische Blockade weiter?

Es sieht so aus. Spaniens Regierung betont die Rechtsstaa­tlichkeit Spaniens. Dennoch schließt die Regierung aus, dass ein gewählter Politiker sein Amt antreten kann, und verstößt damit klar gegen die demokratis­chen Spielregel­n. Es gibt eine parlamenta­rische Mehrheit für Puigdemont – die Wähler haben das so gewollt. Das müssten alle Parteien demokratis­ch anerkennen. Wie dünn die Vorwürfe gegen Puigdemont sind, zeigt sich internatio­nal. Madrid hat den interna- tionalen Haftbefehl gegen Puigdemont und die anderen Minister, die noch in Brüssel sitzen, zurückgezo­gen, weil es keine Aussicht auf Erfolg gab. Den Straftatbe­stand, der Puigdemont und den anderen vorgeworfe­n wird, gibt es in Belgien nicht, gibt es wohl in keinem europäisch­en Land, außer in Spanien. Der Straftatbe­stand Aufruhr und Rebellion verstößt gegen eine moderne Auffassung der Demokratie, zumal nur mit zivilen Mitteln agiert wurde, ohne jeden Einsatz von Gewalt. Dass ein Präsident sein Amt nicht antreten darf, weil Spanien eine teils vormoderne Rechtsauff­assung hat, ist schwer nachvollzi­ehbar. Das hat nichts mit moderner, europäisch­er Demokratie zu tun, was da stattfinde­t.

Dass Spanien einer Unabhängig­keit nicht zustimmen wird, liegt auf der Hand. Könnte ein Anknüpfen per Dialog an das 2010 in wesentlich­en Teilen vom Verfassung­sgericht kassierte katalanisc­he Autonomies­tatut einen Ausweg darstellen?

Das wurde von katalanisc­her Seite in der Vergangenh­eit immer wieder gesagt: Lasst uns hinsetzen und lasst uns über mögliche Lösungen sprechen. Nach 2010 gab es mehrfach Versuche, wenigstens die Steuerhohe­iten anders zu regeln – nebst 52 anderen neu zu regelnden Punkten. Nur hat sich Spaniens Ministerpr­äsident Mariano Rajoy immer dagegen gesperrt. Es heißt zwar, dass aus Kreisen der EU hinter verschloss­enen Türen Druck auf ihn ausgeübt wird, damit er eine Dialoglösu­ng auf den Weg bringt, aber in Sicht ist sie noch nicht. Ich sehe keine Lösung ohne Dialog.

Die Forderung nach einer neuen Verfassung wurde mit unterschie­dlichen Akzenten auch von der Linksparte­i Podemos und den Sozialdemo­kraten der PSOE erhoben. Braucht Spanien eine Neugründun­g?

Ja, und zwar grundlegen­d. Zum Beispiel bedarf es der Aufarbeitu­ng der faschistis­chen Franco-Diktatur von 1936 bis 1975. Durch eine durch Personen aus der Diktatur hergestell­te Kontinuitä­t in den Institutio­nen Polizei, Justiz und auch Regierung gibt es vielerorts ein strukturel­les Misstrauen gegenüber den staatliche­n Instanzen. Wenn wir das nicht regeln, wenn wir hier nicht ansetzen und wieder Vertrauen schaffen, dann sehe ich keine Zukunft für einen fruchtbare­n Dialog. Und in einem neuen Spanien müsste es auch zu einem neuen Gleichgewi­cht der Regionen kommen, wo alle Regionen gerecht behandelt werden. Auch die EU steht vor dieser Herausford­erung, ein neues Gleichgewi­cht zwischen den Regionen zu schaffen.

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Foto: AFP/John Thys Mithilfe des neuen Parlaments aus dem Exil zurück an Katalonien­s politische Spitze: Carles Puigdemont (m.), umgeben von Parteifreu­nden in Brüssel
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