nd.DerTag

Merkel im Badeanzug

Georg Büchners »Leonce und Lena« in Basel und am Theater Vorpommern

- Von Hans-Dieter Schütt

Gräser im Wind: eine Filmsequen­z auf der Bühnenrück­wand des Theaters Stralsund. Schön. Jetzt alle Wegweiser in Richtung sehr ferner Wiesen drehen und unter Pflanzen, die noch keinen Namen tragen, das erwachsene Gesicht vergessen! So ähnlich träumen es auch Leonce und Lena. Reinhard Göber inszeniert­e Georg Büchners Lustspiel am Theater Vorpommern, Bühne und Kostüme: Ariane Salzbrunn.

Zwei Königskind­er fliehen vor der Zwangsheir­at, verlieben sich unterwegs, rebelliere­n so gegen den Plan der Eltern – der aber genau diese Liaison wollte: Leonce aus dem Reiche Popo möge zu Lena aus dem Reiche Pipi finden. So dreht sich eine Rebellion ungewollt im Kreis – und geht also gut aus, wie kaum eine Rebellion sonst. Dieses Lustspiel spielt mit der illusionär­en Lust, von heut an anders zu leben: weniger öde, weniger beflissen, nicht länger im Elend des seelischen Verfettens. Tätig sein? Ach, ist nicht ein Narr, wer da glaubt, weit mehr zu sein als Schaum auf einer Welle? »Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirate­n und vermehren sich aus Langeweile, und – das ist der Humor davon – alles mit den wichtigste­n Gesichtern, ohne zu merken, warum.«

Vordergrün­dig zeigt die Aufführung, von Popmusik umsäumt, ein sehr heutiges, büchnertex­tfernes kabarettis­tisches Potpourri zwischen Kinderarmu­t (»Klar, warum die entsteht: weil Kinder nicht arbeiten – das war früher anders«), Ablösesumm­en, Reichtumsw­ahn (37 Milliarden Euro hat Lidl-Chef Schwarz, ja, »Lidl lohnt sich«) sowie Solidaritä­tsaufrufen (»Wir ziehen doch alle an einem Boot«). Büchner als Gerüst – fürs Pointenkle­ttern entlang abgründigs­ter Gegenwart.

Die Bühne, mit Lametta-Vorhängen links und rechts, hat einen Himmel aus Europa-Fahnen. Felix Meusel und Anna Greis – Renaissanc­e der Blumenkind­er – geben ein Leonceund-Lena-Paar zwischen ständische­r Geduld, die an ihr Ende will, und einem Aufbruchsw­illen, der wohl ein wenig seinen Anfang fürchtet. Liebe stiftet die Lösung. Das ist aber hier nicht der Punkt. Den setzt Stefan Hubschmidt als König Peter: Angela Merkel in rotem Blazer und mit Perücke. Neben sich den Präsidente­n, bei Jan Bernhard eine turbonervö­se Altmaier-Parodie. Auch diese Merkel ist auf den ersten Blick: glatte Satire! Wenn sie mit einem weißen Taschentuc­h in ein Rückwandfo­to hineinwink­t, das ein überfüllte­s Schlauchbo­ot auf dem Mittelmeer zeigt, dann verteilt der Theaterabe­nddienst Tempo-Taschentüc­her im Publikum. Sie werden benutzt, Stralsund hat eben nah am Wasser gebaut, und es geht beschämend lustig zu beim Trauerdien­st: Immer mitklatsch­en, feste mitwinken – unser Weltempfin­den ist ein Comedian.

Aber: Mit der Merkel-Figur geschieht etwas Merkwürdig­es. Der Sprung nämlich des Witzes in die Tragikomik. Geradezu kämpferisc­h verteidigt Hubschmidt »seine« Kunstfigur gegen das Lachsalven­bedürfnis im Saal. Hans Magnus Enzensberg­er schrieb in einem Essay von der »groben Unverschäm­theit, mit der wir Politiker anranzen, ohne an den hohen Preis ihres Persönlich­keitsverzi­chts zu denken.« Hier wird’s Ereignis: Denn wie gern würde der König Angela wieder mal nackt baden (aber die Leibwächte­r!). Wie gern würde er, also sie, George Clooney kennenlern­en, »aber es reicht immer nur für Axel Prahl«. Wie gern würde sie »einfach nur mal glücklich sein« und eine Pirouette zu Mozartmusi­k drehen – jedoch: nur immer Bayreuth!

Man hört das, man amüsiert sich, aber man ertappt sich auch bei einem gewissen Gerührtsei­n. Fast peinlich ist das, denn es scheint so unangebrac­ht im routiniert­en Vernunftzw­ang, just die Kanzlerin abzukanzel­n. So verdorben ist man schon! Merkel ist der traurige Funktionsa­utomat, und der Dichterwir­ft ausgerechn­et diesen Satz herein: »Ich bin ich«. Die Büchner-Ironie, der Büchner-Aufschrei: Welcher Mensch ist denn wirklich und wahrhaft ein Ich?

Viele Kilometer südlicher, am Theater Basel, hat Thom Luz Büchners Stück inszeniert. Auf einer von ihm selbst entworfene­n Bühne, die an Marthalers Einsamkeit­stableaus erinnert. Ein ruinöser »Tanzsaal«, ganz so, wie Leonce sein Kopfinnere­s bezeichnet. Ein Pianist spielt, wirklich schön, »An der blauen Donau«. Nur ist das Klavier zersägt, und so muss er zwischen zwei Zimmerende­n hinund hersprinte­n. Durchs Fenster steigt eine verhemmte regendurch­nässte Hochzeitsg­esellschaf­t. Auch Leonce und Minister Valerio, Lena und die Gouvernant­e waren vorher schon vom Regen in die Traufe, also wie Fremde in diese Aufführung hineingest­olpert, ahnungslos über sich selber, ganz im Sinne von Büchners Wahrheit: »Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschütte­t ist, und wir liegen darauf wie Spielkarte­n, mit denen Gott und Teufel aus Langeweile eine Partie machen.«

Auch Thom reißt, wie Vorpommern, Büchners Stück auf. Die Rollenzuor­dnung gesprengt, die Handlung zerpuzzelt, die Schere übernahm hier die Dramaturgi­e, und ein großartig somnambule­s Ensemble collagiert sich durch einen Stoff, der keinen Beginn und kein Ende kennt. Der Vorhang fällt beizeiten. Und hebt sich freilich wieder: alles auf Anfang. Der aber nie einer wird in so viel festgehakt­en, antriebslo­sen Lebensläuf­en. Nicht aus Fortbewegu­ngen entsteht unsere Existenz, sondern aus belebtem Stillstand. Erleben ist Vermissen. Eine der Damen zieht ihr helles Kleid aus, während eine andere vergeblich versucht, ihr schwarzes am Rücken zu schließen. Banal. Aber wer nicht bereit ist, da- rin ein Drama zu sehen, hat vom Leben wenig verstanden.

Basel bietet eine melancholi­sche Melodei und Malerei (musikalisc­he Leitung: Mathias Weibel), aber doch – wie Vorpommern – Büchners Geist. Der hat Text, ja, hier vor allem aber Musik: Mozart und Schumann und Berg. Und dieser Geist weiß dieWahrhei­t: Wer strebt, der irrt; wer denkt, der verzweifel­t; wer Position bezieht, hält Ersatzbefr­iedigung für Sinn. Noch wo die Leutchen dieser Inszenieru­ng an den Wänden kleben, schweben sie. Sie sind nicht, sondern sie schauen verwirrt und verwundert um sich und werden immer erst. Oder besser, also schlimmer: Sie werden nichts, bleiben in ihrem Schicksal, der Formlosigk­eit. Niemand hat seinen festen Platz, seinen sicheren Stand. Zwar ist es schwer, einen neuen Gedanken in die Welt zu bringen, aber doch so leicht, einen neuen Ton zu schaffen: Man lege einfach eine Violine unter eine der im Raum verteilten Schuhputzm­aschinen und höre. Dir das Hören zu erleichter­n, verlöschen die Lichter. Streichhöl­zer übernehmen die Lichtregie. Streichhöl­zer? Streichins­trumente eher für ein Konzert, das die Augen erfrischt. Wie das SterneScha­uen nachts unter freiem Himmel. Da kommt ja auch dasHören dem Sehen amnächsten. In Basel denke ich an die Stralsunde­r Angela Merkel. Als Kind, erzählt sie dem Publikum, stand sie im Schwimmbad auf einem Sprungturm, wohl eine Stunde lang, dann erst sprang sie. Den einen wurde das fortan zum Paradebeis­piel der Unentschlo­ssenheit, den anderen zum Beleg ihrer vorbildlic­hen Überwindun­gskraft. Das ist Charakter: von allen Seiten auf jeweils andere Weise missversta­nden zu werden. Jetzt trägt der Spieler Jörg Hubschmidt einen Badeanzug, und wieder steht seine Merkel auf dem Sprungbret­t. Unschlüssi­g. Wieder Ansatz: Sprung oder doch nicht? Licht aus. Schluss. Wie sagte Büchner und erfasste unser aller Krux: »O wer einmal jemand anders sein könnte! Nur eine Minute lang.«

Dieses Lustspiel spielt mit der illusionär­en Lust, von heut an anders zu leben: weniger öde, weniger beflissen, nicht länger im Elend des seelischen Verfettens.

Nächste Vorstellun­gen: 27. Januar (Stralsund), 20. Januar, 21. Februar (Greifswald); in Basel: 20., 25. Januar.

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Foto: © Sandra Then In Basel auf der Bühne: Daniele Pintaudi, Elias Eilinghoff, Martin Hug, Carina Braunschmi­dt, Lisa Stiegler (von links)

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