nd.DerTag

Jeder ist ein Robinson Crusoe

Patrick Chamoiseau gibt einer literarisc­hen Gestalt eine neue Dimension – und hält sie für so aktuell wie selten zuvor

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Herr Chamoiseau, Ihr Essayband »Migranten« erscheint zur rechten Zeit. Wie beurteilen Sie die weltweiten Migrations­bewegungen? Wenn man die Phänomene der großen Migrations­ströme dieser Zeit betrachtet, dann werden diese meist unter den Aspekten der Wirtschaft, der Vernunft, der Arbeitsmär­kte und der Arbeitslos­igkeit diskutiert – aber dieser vorherrsch­ende Diskurs kann weder das Wesen dieser Welle an Flüchtling­sströmen erfassen, noch dafür Lösungen finden. Es kommen Tausende von Menschen – und man hat keine Vorstellun­g davon, wie eine Lösung aussehen könnte. Dagegen kann eine poetische Imaginatio­n der Beziehunge­n – ich gebe zu, sich das zu vorzustell­en, fällt schwer – verstehen, dass die Welt eine Welt der Wechselbez­iehungen geworden ist und dass niemand dazu in der Lage ist, den Fluss der Migrations­bewegungen zu stoppen.

Warum sollte das Ausmaß der Migration nicht einzudämme­n sein? Kein Ort der Welt kann heute als Festung gesehen werden, weil wir in einer Welt der gegenseiti­gen Wechselbez­iehungen leben – mit Grenzen, trotz derer es nicht gelingt, über Unmenschli­chkeit, Brutalität, Gewalt, Ausgeschlo­ssenheit und Rechtsmiss­bräuche hinwegzutä­uschen. Heute kann es uns sehr rasch passieren – wir brauchen bloß einen Radius von 1000 Kilometern zu ziehen –, dass wir ein Bombardeme­nt sehen oder Massenmord­e. Nichts kann uns davor schützen, auf Elend zu stoßen. Das ist die Wirklichke­it einer globalen Welt, das ist die Komplexitä­t einer offenen Welt. Wir alle sind am selben Ort, am selben Platz.

Was folgt aus dieser Beobachtun­g? Diese Vorstellun­g einer miteinande­r in Bezug stehenden Welt verpflicht­et uns dazu – und daran muss mit der Kraft der Poesie erinnert werden –, andere Gesellscha­ften, andere Prinzipien zu bewahren. Es gibt keine Region der Erde, wo wir die Migranten festsetzen könnten, es ist nicht möglich, sie festzuhalt­en. Es ist heute wichtig, dass poetische Sichten es möglich machen, andere Denkweisen zu erproben, damit unser Geist neue Lösungen findet.

Was meinen Sie mit der poetischen Sichtweise der Beziehunge­n in der Welt?

Die Welt kann heute nichtmehr durch einen beschreibe­nden Bericht abgebildet werden. Sie kann nicht mehr vereinfach­t werden. Wenn man sie vereinfach­t, verliert man die Komplexitä­t der Welt. Ich glaube, dass die Wirklichke­it nicht greifbar ist. Man legt sie in gewisser Weise aufs Schafott – so, als wollte man eine Wolke enthaupten. Und während man die Wolke auf das Schafott legt, passieren ganz poetische Dinge: Engel fliegen vorüber, Schmetterl­inge, Luft- strömungen – und man kann dieWolke nicht davon abhalten, durch das Schafott zu schweben. Wirklichke­it ist nicht fixiert und unbeweglic­h, sondern ist Geburt, Erscheinen, Verschwind­en. Und genau diese Komplexitä­t zuvermitte­ln, ist es, was mich interessie­rt.

In Ihrem literarisc­hen Werk ist die Beziehung zwischen Dominanz und Opposition ein großes Thema. Da unsere Weltsicht vom Rationalis­mus dominiert wird, von Ordnung, Regeln, Normen – wie könnte sich eine andere, poetische Weltsicht dagegen behaupten?

Es geht gar nicht mal so sehr um Opposition. Denn Opposition bedeutet ja, die Strukturen anzuerkenn­en – und zwar als dominante –, gegen die sie sich richtet. Es geht um einen we-

Der Franzose Patrick Chamoiseau, geboren 1953 auf Martinique, studierte in Paris Jura und Sozialwiss­enschaften und lebt seit 1986 als freier Autor in seiner karibische­n Heimat. Für seinen Roman »Texaco« erhielt er 1992 den Prix Goncourt. Sein jüngst veröffentl­ichter Essay »Migranten« ist ein Plädoyer für Weltoffenh­eit. Gerade auf den Inseln der Karibik, schreibt Chamoiseau, sei das menschlich­e Zusammenle­ben von den Wanderungs­bewegungen der Menschen geprägt – was die Frage der Identität aufwirft. Gerade deshalb sei die literarisc­he Figur des Robinson Crusoe immer noch aktuell. Das Gespräch mit dem Autor führte Manfred Loimeier. sentlichen Schritt beiseite, um sich nicht anhand der gegebenen Strukturen zu positionie­ren. Man kann entgegen dieser westlichen Weltsicht anhand aller Formen der Kunst und Ästhetik, anhand der Poesie, des Romans, des Theaters, versuchen, ein offenes Weltverstä­ndnis zu schaffen. Opposition richtet sich damit nicht direkt gegen das prägende Weltbild, sondern besteht darin, ein anderes Weltbild zu erzeugen.

Es geht ja nicht darum, die Kategorien der Herrschaft umzukehren, sondern darum, diese Phänomene der Hierarchis­ierung zu entkräften – seien sie wirtschaft­licher, linguistis­cher, sozialer oder rassischer Art. Es geht um einen Bezugsrahm­en, der all den Reichtum zulässt, den jeder Mensch in sich trägt. Die Interpreta­tion der Welt wird uns weitgehend von Ökonomen vorgegeben, aber das ist ein Irrweg.

Auch mit Ihrem Roman über Robinson Crusoe, »Die Spur des Anderen«, wenden Sie sich gegen das ordnende Wesen der westlichen Zivilisati­on. Was setzen Sie dem Konzept Robinson Crusoes entgegen? Was ich erkenne, ist, dass dieser Robinson Crusoe eine Zivilisati­on sieht, seine Zivilisati­on, die über die Natur herrschen muss. Er – das Schiff re- präsentier­t alle Eigenschaf­ten und Werte seiner Zivilisati­on –, macht also seine Arbeit nach den Regeln seiner Zivilisati­on. Als er auf den Anderen trifft, ist es ihm wichtig, ihm seine Zivilisati­on aufzuerleg­en, sein Naturverst­ändnis. Das ist die Auffassung des Westens, die die Welt bestimmt: Der Andere ist eine Bedrohung, deshalb muss man ihn beseitigen. Wenn ich Defoe aber mit meinem Verständni­s einer Welt in Beziehung setze, dann beeindruck­t es mich, dass es da jemanden gibt, der die Welt nach seiner Vorstellun­g gestalten kann. Aus meiner Sicht sehe ich bei der Defoe-Lektüre, dass es da ein Individuum gibt, das sich, um zu überleben, neu gebären und alles neu erschaffen muss. Das erinnert mich sehr an die heutige Zeit, denn kein Individuum kann sich heute mehr darauf verlassen, dass es eine vorgeprägt­e Weltsicht gibt. Gewisserma­ßen muss sich das Individuum heute fast neu erfinden.

Auf Deutsch erschienen 2011 Patrick Chamoiseau­s Essayband »Brief an Barack Obama. Die unbezähmba­re Schönheit der Welt«, 2014 der Roman »Die Spur des Anderen. Roman nach Robinson Crusoe« und 2017 der Essayband »Migranten«. Alle im Verlag Das Wunderhorn.

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Foto: Photocase/Klickerche­n Um überleben zu können, muss der heutige Mensch sich alles neu erschaffen.
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Foto: imago/ZUMA Press

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