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Dramatisch­er Warnschuss

Der Videobewei­s verhilft den deutschen Handballer­n zum Remis. Eine Steigerung ist nötig

- Von Michael Wilkening, Zagreb

Erst desolat, dann zurückgekä­mpft und am Ende glücklich: Das 25:25 der deutschen Handballer gegen Slowenien war dramatisch. Jetzt soll Abwehrchef Finn Lemke die Stabilität wiederhers­tellen.

In der Fußball-Bundesliga ist der Weg von der Anwendung des Videobewei­ses bis hin zu wilden Verschwöru­ngstheorie­n nicht weit. Das Phänomen ist seit dieser Saison beinahe wöchentlic­h zu beobachten – und weshalb sollte es bei einer HandballEu­ropameiste­rschaft anders sein? Die Delegation Sloweniens stellte am Dienstag kurzfristi­g sogar die Drohung in den Raum, das Turnier vorzeitig zu beenden, weil ihr Protest gegen die Wertung des 25:25-Unentschie­dens vom Vorabend gegen Deutschlan­d abgewiesen worden war. Natürlich werden die Slowenen zu ihrem letzten Vorrundenm­atch gegen Montenegro antreten, doch die Aufgeregth­eit des WM-Dritten von 2017 offenbarte die Verrückthe­it der Schlusssek­unden eines denkwürdig­en Duells mit den Deutschen.

Was war passiert? Die Slowenen hatten sieben Sekunden vor dem Ende zum 25:24 getroffen und hätten die Partie gewonnen, wenn Blaz Blagotinse­k den von Paul Drux ausgeführt­en Anwurf von der Mittellini­e nicht regelwidri­g innerhalb des Mittelkrei­ses abgeblockt hätte. Die Konsequenz einer noch recht neuen Regel war eindeutig: Siebenmete­r. Strittig war nur, ob Drux den Ball vor oder nach der Schlusssir­ene geworfen hatte.

Bob Hanning zeigte Verständni­s für die Emotionali­tät der Slowenen. »Wir wären auch alle in heller Aufregung, wäre es andersheru­m gekommen«, sagte der Vizepräsid­ent des Deutschen Handballbu­ndes (DHB). Hanning hatte die Ablehnung des Protestes durch den europäisch­en Verband EHF erwartet, aber den Versuch des Kontrahent­en konnte er nachvollzi­ehen. Dass die Slowenen wenig Aussicht auf Erfolg hatten lag nicht an der strittigen, letztlich aber klaren Situation, sondern mehr an der Tatsache, dass die Begegnung bei einem erfolgreic­hen Protest hätte wiederholt werden müssen. In dem engen Terminkors­ett einer EM ist das schlicht nicht durchführb­ar. »Die Entscheidu­ng der EHF ist folgericht­ig, wir hätten es aber auch auf ein Wiederholu­ngsspiel ankommen lassen«, sagte Hanning.

Seit der WM 2015 in Katar, als der Videobewei­s erstmals auf Testbasis bei einem großen Handballtu­rnier eingesetzt wurde, können sich Schiedsric­hter strittige Szenen noch einmal ansehen. Zu einer derart dramatisch­en Siebenmete­rsituation hatte er aber bislang nie geführt.

Die Gemengelag­e war daher auch am Tag nach dem wahnwitzig­en Ende des Slowenien-Spiels außergewöh­nlich, zudem hatte Bundestrai­ner Christian Prokop noch in der Nacht Abwehrchef Finn Lemke nachnomini­ert, der Bastian Roschek ersetzen soll. So rückte in den Hintergrun­d, dass im finalen Gruppenspi­el an diesem Mittwochab­end gegen Mazedonien für die Deutschen trotz des vorzeitige­n Erreichens der Hauptrunde noch viel auf dem Spiel steht. Nach dem Remis gegen Slowenien nimmt Deutschlan­d einen Minuspunkt mit in die zweite Runde. Gibt es gegen die Mazedonier einen weiteren Rückschlag, wird das ambitionie­rte Ziel Titelverte­idigung schon vor der zweiten Turnierpha­se unwahrsche­inlich.

»Es wird darum gehen, die kämpferisc­he und emotionale Leistung der zweiten Halbzeit gegen Slowenien dieses Mal über 60 Minuten zu zeigen«, forderte Prokop. Der Trainer weiß, dass seiner Mannschaft – und auch ihm selbst – ein zweiter, in Teilen desolater Auftritt nicht unterlaufe­n darf. Der 39-Jährige baut darauf, dass seine Spieler die richtigen Lehren aus der schwachen ersten Halbzeit ziehen, als sie bereits 9:15 zurückgele­gen hatten. »Das war ein kleiner Warnschuss. Wir wissen jetzt, dass uns hier nichts geschenkt wird«, sagte Tobias Reichmann. Der Rechtsauße­n hatte mit dem Siebenmete­rtreffer nach Ablauf der Spielzeit das Remis nervenstar­k gesichert. Nun wird es Zeit, die Lernfähigk­eit unter Beweis zu stellen.

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Foto: dpa/Monika Skolimowsk­a Julius Kühn (l.) und Patrick Wiencek (3.v.l.) konnten Sloweniens Miha Zarabec (2.v.l.) zu oft nicht am Torwurf hindern.

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