Lieber an die Côte d’Azur
Immer mehr ländliche Gebiete in Frankreich bleiben ohne medizinische Versorgung – die Ärzte sind extrem schlecht verteilt
Mehr Ärztehäuser mit fest angestellten Medizinern erscheinen der Regierung in Paris als Lösung für die Versorgungsprobleme in vielen ländlichen Regionen. Frankreichs Ärztenachwuchs will sich mehrheitlich nicht mehr frei niederlassen, sondern lieber zu festen Zeiten und Gehältern im Krankenhaus arbeiten. Außerdem ziehen junge Mediziner lieber an die Côte d’Azur oder nach Paris und in andere Großstädte als auf das Land und schon gar nicht in den sozial düsteren Norden des Landes. Dadurch entstehen immer größere »medizinische Wüsten«, wie die Medien sie nennen. Auf dem Land finden viele der Hausärzte, die in Rente gehen wollen, keinen Nachfolger für ihre Praxis und die Patienten. Noch kritischer sieht es bei den Fachärzten aus. Bei ihnen verlängert sich die Zeit, die man auf einen Termin warten muss, immer mehr. Im Landesdurchschnitt sind es bei HalsNasen-Ohren-Ärzten 42 Tage, bei Kardiologen 53, bei Gynäkologen 68 und bei Augenärzten sogar 117 Tage. Das sind zehn bis 23 Tage mehr als 2012. In Zukunft dürften es sogar noch mehr werden, weil sich auf viele Fachgebiete heute weniger Medizinstudenten spezialisieren als früher. So gibt es landesweit etwa 1100 Gynäkologen – davon 312 in der Pariser Region und nur 32 in der Region Centre mit immerhin mehr als 2,5 Millionen Einwohnern. Es ist bereits abzusehen, dass es in zehn Jahren landesweit nur noch 500 sein werden. Viele der staatlichen Krankenhäuser oder privaten Kliniken kommen schon heute nicht mehr ohne Ärzte aus Afrika oder Osteuropa aus – die aber in ihrer Heimat fehlen.
Der Rechnungshof hat in einem Ende vergangenen Jahres veröffentlichten Bericht über die Lage des Krankenkassensystems die schrankenlose Niederlassungsfreiheit als Wurzel aller Probleme ausgemacht. Gefordert wird ein System »selektiver Konventionen«, die mit jedem Arzt einzeln ausgehandelt und für mehrere Jahre abgeschlossen werden sollen. Diesem Plan zufolge könnten Nachwuchsärzte nur dann mit einem Vertrag mit der staatlichen Krankenkasse und damit einer Bezahlung ihrer Leistungen rechnen, wenn sie sich den Ort ihrer Niederlassung aus einer Liste von »Kommunen mit vordringlichem Bedarf« ausgesucht haben. Doch so weit wird die Regierung nicht gehen. Sie hat im vergangenen November ihr bereits zehntes Programm zur Beseitigung der »medizinischen Versorgungswüsten« vorgelegt, doch es ist fraglich, ob es besser funktioniert als die vorangegangenen. Die Regierung will durch finanzielle Unterstützung die Zahl der heute landesweit 920 Gesundheitszentren, in denen Allgemeinmediziner und Fachärzte praktizieren und kooperieren, innerhalb von fünf Jahren verdoppeln. Doch der Erfolg solcher »Ärztehäuser« lässt sich nicht von Paris aus verordnen. Sie funktionieren nur, wenn sie durch die Gemeinderäte und die Behörden des jeweiligen Departements entsprechend den örtlichen Bedingungen eingerichtet, gefördert und mit klug angeworbenen Ärzten besetzt werden. Doch das ist leichter gesagt als getan. Darum will das Departement Saône-et-Loire, wo der ungedeckte Bedarf besonders hoch ist, für seine Gesundheitszentren nicht mehr nach freien Ärzten suchen, sondern 30 Planstellen für fest angestellte Ärzte schaffen.
Der Verband der niedergelassenen Ärzte (CSMF) sieht den Ausweg aus der Misere nicht in einer Lockerung des Numerus clausus für das Medizinstudium und schon gar nicht in einer »geografischen Zwangsverpflichtung«, sondern in attraktiveren Arbeitsbedingungen und besserer Bezahlung. Wenn überhaupt, so eröffnen Mediziner nach ihrem langen Studium und mehreren Jahren als Assistenzart im Schnitt erst mit 38 Jahren ihre eigene Praxis. Der Verband schätzt ein, dass die Bezahlung mit 25 Euro brutto pro Konsultation eine der niedrigsten in Europa ist, und fordert nicht nur eine generelle und substanzielle Anhebung, sondern auch eine Staffelung in vier Stufen je nach Kompliziertheit sowie spezielle Sätze für Telemedizin-Konsultationen und für Vorsorgeberatungen. Für all dies wären über fünf Jahre verteilt fünf Milliarden Euro nötig, doch das würde sich auszahlen. Der Verband rechnet vor, dass heute jeder Patient, der für eine banale Konsultation in die für jedermann kostenlose Notaufnahme eines öffentlichen Krankenhauses geht, das staatliche Gesundheitswesen 250 Euro kostet. Der Patient vermeidet so, die Gebühr für eine Konsultation bei einem niedergelassenen Arzt vorzuschießen, die erst später und auch nur zu etwa 90 Prozent erstattet wird. »Für einen Bruchteil der 250 Euro könnten wir ihn sehr gut und besser als heute behandeln«, ist der CSMF überzeugt.