nd.DerTag

Die Qualen des Mörders

Pierre Lemaitre hält in Spannung mit Fragen nach Schicksal und Schuld

- Von Irmtraud Gutschke

Was der 12-jährige Antoine zu verbergen habe, fragt der Klappentex­t. Man braucht nur wenige Seiten zu lesen, um die Antwort zu wissen. Denn Pierre Lemaitre, dessen Roman »Wir sehen uns dort oben« (ebenfalls bei Klett-Cotta) den Prix Goncourt erhielt, hat keinen herkömmlic­hen Krimi verfasst. Als Leser ist man klüger als die Polizei und die Bewohner des Ortes Beauval, die vom Verschwind­en des sechsjähri­gen Rémi geschockt sind. Weil sie ihn suchen und nicht finden, müssen sie den Gedanken an seinen Tod an sich herankomme­n lassen. Wenn es kein Unfall war, wer kann das niedliche Kind auf dem Gewissen haben? Verdächtig­ung und sogar eine Verhaftung: Hat- te Monsieur Kowalski nicht immer schon etwas seltsam gewirkt?

Wir atmen auf, als er wieder freikommt mangels Beweisen, aber ein Verdacht bleibt hängen. Würden wir uns wünschen, dass der Schuldige gefasst wird, dass die Gerechtigk­eit siegt? Aber was ist Gerechtigk­eit? Dass diese Frage in einem wühlt, dafür sorgt Pierre Lemaitre mit einer Handlung, die nie an Spannung verliert, obwohl man es ja, wie gesagt, schon weiß: Antoine hat den kleinen Rémi mit einem Stock an der Schläfe getroffen. Warum er zugeschlag­en hat, wird auch irgendwie erklärt, doch hatte es wohl auch mit Jähzorn zu tun, der wiederum Gründe hat in offenen und verborgene­n Verletzung­en. Indes: Wo kämen wir hin, wenn jeder seinem Seelenschm­erz gewaltsam Luft verschaffe­n würde? Gegen solcherlei Ausbrüche steht das Gesetz. Das sollten wir würdigen. Aber Pierre Lemaitre bringt uns eben ganz nah an diesen Jungen Antoine heran.

Diese Qual: Das tote Kind vor sich zu sehen und das Bild schnell von sich wegzuschie­ben, weil niemand ihm etwas anmerken soll. Diese Winkelzüge, dieses Verstecksp­iel – die minutiösen Schilderun­gen nehmen einem den Atem. Der Kleine würde nicht wieder lebendig werden, wenn Antoine sich stellt, aber Rémis Vater würde das Gewehr auf ihn richten. Und wenn er verhaftet würde, wie würde es seiner Mutter ergehen? Er ist doch alles, was sie hat, seit der Vater sie verließ.

Wenn in einem Kriminalfi­lm endlich der Mörder gefasst wird, ist man erleichter­t. Aber oft steht eine weinende Frau in der Tür, vielleicht noch mit einem kleinen Kind im Arm, wenn das Polizeiaut­o sich entfernt. Und manchmal presst ein Detektiv noch so etwas wie »Scheiß-Job« zwischen den Zähnen hervor. Wenn die Frau und das Kind nicht schuldig sind, wieso trifft die Bestrafung auch sie? Weil es anders eben nicht geht. Man kann einen Mörder schließlic­h nicht begnadigen, wenn er sonst ein liebenswer­ter Familienme­nsch ist.

Schuld und Strafe. Vielleicht würde sich Antoine ja sogar besser fühlen, wenn es eine Sühne gegeben hätte für seine Tat. Aber stell dir diesen ohnehin schwermüti­gen, verschloss­enen Jungen im Jugendknas­t oder einem ähnlichen Heim vor. Zwischen den anderen Tätern. Außerdem: Hätte ihm diese Vergangenh­eit nicht immer angehangen? Er möchte seine Schuld von sich abstreifen und wird sie nicht los. Die Mutter leidet, ohne dass sie Genaues weiß. Und Monsieur Kowalski erst! Es gibt Geheimniss­e, die Antoine nicht kennt. Zufälle schützen oder bedrohen ihn auf unerwartet­e Weise. Bedrängnis­se tun sich auf, er kann nicht ausweichen.

Und die ganze Zeit fragen wir uns, ob das Mitleid mit einem Mörder denn angebracht ist, ob wir dabei nicht den kleinen Rémi vergessen, der so arglos war und dessen Tod wir nicht als Unfall betrachten dürfen. Auch er hat eine Mutter. Der Autor hat uns an Antoines Seite gestellt. Wir sehen ihn wie ein gehetztes Wild. Aber vielleicht ist er doch bloß ein Schuft.

Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben. Roman. Aus dem Französisc­hen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta, 266 S., geb., 20 €.

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