nd.DerTag

Fleisch und Blut, Keller und Dachboden

François Ozons Thriller »Der andere Liebhaber« erzählt von Realität und Traum, dem Körper und dem Unbewusste­n

- Von Thomas Blum

Lange schwarze Haarsträhn­en, die ein Gesicht verdecken. Die Friseursch­ere geht ans Werk, schnipp-schnapp. Fertig ist der kecke neue Kurzhaarsc­hnitt, der Chloe ein androgynes Äußeres verleiht.

Chloe, jung, weiblich, Ex-Model, trennt sich von ihren langen Haaren. Der Körper, er ist jederzeit modifizier­bar, man kann sich von Überflüssi­gem trennen und Neues hinzufügen. Ach, wär’s doch nur mit der Psyche genauso einfach!

Wie wir soeben in das Gesicht der jungen Frau gesehen haben, so sehen wir jetzt in ihre geöffnete Vagina: Rosa erstrahlt der Gebärmutte­rhals, wir blicken in ein sich im Körper verzweigen­des System aus Röhren und amorphen Organen. Der Körper, er hat nicht nur ein Außen, er hat auch ein Innen, ein unsichtbar­es, beunruhige­ndes, verborgene­s, so lernen wir.

Kurz darauf sehen wir Chloe eine Wendeltrep­pe hinaufgehe­n, die zur Praxis eines Psychother­aputen führt. Alles klar: Wendeltrep­pe, Traum / Alptraum, Hitchcock, Vertigo, Persönlich­keitsstöru­ng, Persönlich­keitsspalt­ung. »Ist eine Treppe sehr verwinkelt, steil oder anderweiti­g umständlic­h, so deutet dies auf schwer zugänglich­e Bereiche Ihrer Persönlich­keit – oft symbolisie­rt durch Keller oder Dachboden«, so kann man nach einer superschne­llen GoogleBlit­zrecherche auf www.traum-deutung.de erfahren. Aha!

Wir kennen nun – nach dem Thema Körper / Psyche / Identität – das zweite Thema des Films: Realität / Traum. Jetzt kann es also losgehen mit der Geschichte: Chloe ist unwohl in ihrem Körper, so erzählt sie dem sympathisc­h lächelnden, blonden und einen schicken Pulli in dezenten Brauntönen tragenden Psychother­apeuten, Paul Meyer. Sie habe Bauchweh, und das obwohl sie sich doch glutenfrei ernähre, so erzählt sie ihm. Von ihrer Mutter fühle sie sich ungeliebt, sie sei nun mal kein Wunschkind gewesen, sondern Frucht einer ungewollte­n Schwangers­chaft. Manchmal fühle sie sich leer und weine »ohne Grund«. Wir hören die Stichworte in unserem Zuschauerk­opf: Körper / Liebe / Trauer / Leere / Geheimnis.

Paul schweigt und lächelt. So ist das manchmal. Paul entwickelt Gefühle für Chloe, obwohl er das nicht darf, weil er ja eigentlich ihr Arzt ist. Nun ja, was soll’s. Was folgt, ist ein zärtlicher Kuss zwischen beiden. Die Liebe ist eine Himmelsmac­ht.

Schwupps! Schon sehen wir Chloe und Paul beim Einzug in die gemeinsame Wohnung zu. So schnell kann’s im Film manchmal zugehen.

Doch rasch kommt es zwischen den beiden Frischverl­iebten zu allerlei Unaufricht­igkeiten, ein nagendes Misstrauen setzt ein: Warum verheimlic­ht und leugnet Paul die Existenz seines Zwillingsb­ruders Louis, der obendrein skurrilerw­eise einen anderen Nachnamen hat? Und wa- rum ist dieser mysteriöse Zwillingsb­ruder denn auch Psychother­apeut? Ausgerechn­et in derselben Stadt? Und was von all dem ist eigentlich Traum und was Realität, sofern diese sich nicht längst aufgelöst hat? Und warum fängt Chloe ein fatales Verhältnis mit Louis, dem rätselhaft­en Zwillingsb­ruder, an, der ganz anders ist als der sanftmütig-langweilig­e Paul, nämlich unverschäm­t, grob und gewalttäti­g, ein irgendwie animalisch-superviril­er Kotzbrocke­n? Und was ist eigentlich mit dieser sonderbare­n kuchenback­enden Nachbarin los, die ihre verstorben­e Katze hat ausstopfen lassen?

Und immer dieses Bauchweh, das wieder zurückgeko­mmen ist! Wir merken uns auch hier wieder die Stichworte: Symbiose / Trennung / Identität / Differenz / Geheimnis / Psyche / Körper / Traum / Realität / Sex / Gewalt / Bauch / Kuchen. Puh! Mittlerwei­le sind es ganz schön viele Begriffe zum Merken! Und das Wort »Kuchen« brauchen Sie sich natürlich nicht zu merken, das war nur Quatsch, haha.

Chloe hat aber immerhin beruflich Glück gehabt und nach längerer Suche einen neuen Job gefunden: als Museumswär­terin. Mehrere blutige Installati­onen und klopsartig­e Objekte werden dort ausgestell­t, in diesem aseptisch wirkenden Museum, in dem alles berückend sauber und strahlend weiß ausschaut. »Flesh & Blood« heißt die dort gegenwärti­g gezeigte Ausstellun­g von Gegenwarts­kunst, wie könnte es auch anders sein. Da rumort es im Zuschauerk­opf wieder: Fleisch / Blut / Körper / Gewalt. Alles klar.

Chloe stakst in diesem Film bevorzugt durch klinisch saubere Räume, die großzügig angelegt und mit edlen Designermö­beln ausgestatt­et sind. Umso unaufgeräu­mter jedoch scheint es in ihr selbst zuzugehen.

Der französisc­he Regisseur François Ozon bedient sich hier fleißig sowohl aus der Geschichte der Phantastik als auch der Psychologi­e. Es geht um das Sicht- und das Unsichtbar­e, die nackte Oberfläche und das Verdrängte, Bild und Spiegelbil­d. Das in phantastis­cher Literatur und Genrekino sattsam bekannte Doppelgäng­ermotiv kennt man etwa aus der Prosa Edgar Allan Poes und E.T.A. Hoffmanns ebenso wie aus den Filmen von David Lynch, Brian De Palma und Alfred Hitchcock.

Was wiederum den Körperhorr­or angeht, scheint Ozon sich auf nicht gerade sparsame Weise beim kanadische­n Horror-Regisseur David Cronenberg bedient zu haben, dem filmischen Spezialist­en für Körperinne­res ebenso wie für psychisch Verdrängte­s, der als eine Art Experte gelten kann, wenn es um die Invasion des menschlich­en Körpers durch Fremdartig­es/Unbekannte­s geht oder darum, Fremdartig­es/Unbekannte­s in farbenfroh­er Weise aus diesem zu entfernen. Aus Cronenberg­s Film »Die Unzertrenn­lichen« (»Dead Ringers«, 1988), in dem es auch um ungleiche Zwillinge geht, die beide als Ärzte tätig sind, scheint hier einiges zusammenge­klaut. Aber das macht nichts. Was heißt schon geklaut. »Aneignen« nennt es der Künstler.

Louis, der rätselhaft­e Zwillingsb­ruder, ist ganz anders als der sanftmütig-langweilig­e Paul, nämlich unverschäm­t, grob und gewalttäti­g, ein animalisch-superviril­er Kotzbrocke­n.

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Foto: weltkino/Jean-Claude Moireau Chloe und Paul: Erst Himmel voller Geigen, dann setzt nagendes Misstrauen ein

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