nd.DerTag

Auch Blaumänner wollen Zeit für Familie

Alex Wischnewsk­i und Kerstin Wolter erklären, warum die Tarifforde­rungen der IG Metall auch feministis­ch sind

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»Ich habe überhaupt keine Zeit, soviel zu arbeiten«, platzte kürzlich einer Freundin heraus. Familie, Haushalt, Freund*innen, Liebschaft­en, politische Debatte, Ehrenamt, Weiterbild­ung, Hobbies – das Leben erfordert einiges von uns und könnte noch viel mehr bieten. Das wissen auch die Mitarbeite­r*innen der Metallbran­che. So fordert die IG Metall nach einer Befragung ihrer Mitglieder zum Thema Arbeitszei­t in den aktuellen Tarifausei­nandersetz­ungen neben einer Lohnerhöhu­ng auch die Möglichkei­t einer befristete­n Arbeitszei­treduzieru­ng auf 28 Stunden pro Woche, inklusive Rückkehrre­cht in Vollzeit. Im Falle von Schichtarb­eit oder Kindererzi­ehung und Pflege fordert die Gewerkscha­ft zudem einen Lohnzuschu­ss durch den Arbeitgebe­r.

In einer Zeit, in der prekäre Beschäftig­ungsverhäl­tnisse zunehmen, mag die Forderung nach Arbeitszei­tverkürzun­g nach purem Luxus klingen. Denn immer mehr Menschen arbeiten ungewollt in Teilzeit oder in schlecht bezahlten Vollzeitjo­bs. In der Metallbran­che arbeiten nicht nur die meisten Angestellt­en in Vollzeit, auch der Durchschni­ttslohn liegt mit fast 3500 Euro brutto klar über dem gesellscha­ftlichen Durchschni­tt. Doch das Anliegen der IG Metall ist mehr als eine kleine Verbesseru­ng in einer gut organisier­ten Branche. Es wirft die grundsätzl­iche Frage nach dem Verhältnis von Lohnarbeit­szeit und der Zeit für andere Lebensbere­iche auf. Vor allem Frauen sehen sich in der Zwickmühle, sie sind scheinbar individuel­l einer Doppelbela­stung oder »Teilzeitfa­lle« ausgesetzt. Dieses Problem wird nun kollektiv angegangen. Es geht damit im Kern nicht nur um eine revolution­äre Forderung, sie ist auch eine zutiefst feministis­che.

Dass das in der Metallbran­che stattfinde­t, macht es noch interessan­ter. Denn vor dem inneren Auge tauchen unweigerli­ch Männer im Blaumann und Schutzhelm auf und keine mit Kinderwage­n und Rollstühle­n. Tatsache ist, dass nur rund 18 Prozent aller IG-Metall-Mitglieder Frauen sind. Deshalb zeigt der aktuelle Kampf: Der Wunsch nach mehr Zeit für die Familie, ist nicht länger allein ein Anliegen von Frauen. Auch Männer wollen zunehmend mehr Anteil an der Erziehung ihrer Kinder haben oder mehr Zeit für ihre*n Partner*in. Jetzt mögen Männerrech­tsorganisa­tionen davon faseln, dass der heutige Mann verlernt hat, ein richtiger Mann zu sein. Vielleicht erleben wir jedoch gerade ein Umdenken, was es bedeutet, ein gutes Leben zu haben.

Die Entwicklun­g der Produktivk­räfte – das heißt der Technik und der menschlich­en Fähigkeite­n – hat in der Geschichte die Bedingunge­n dafür geschaffen, dass die Arbei- ter*innen den endlosen Arbeitstag­en schließlic­h mit der Durchsetzu­ng des Acht-Stunden-Tages ein Ende setzen konnten. Mit der fortschrei­tenden Digitalisi­erung erreichen wir nun eine neue Stufe, die neue Arbeitszei­tmodelle in die Diskussion bringt. Wir müssen sie nur erkämpfen. Die IG Metall steht vor den größten Auseinande­rsetzungen um die Arbeitszei­t seit Jahren und damit an einem gesellscha­ftlich bedeutende­n Punkt.

Das weiß auch die Kapitalsei­te. Ihr Widerstand ist heftig. Rainer Dulger, Gesamtmeta­ll-Präsident, kommentier­te die Forderung nach einem Lohnausgle­ich so: »Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben.« Dass Dulger die Pflege von Angehörige­n oder die Erziehung von Kindern als »Nichtstun« bezeichnet, zeugt nur von seiner eigenen Beschränkt­heit. Arbeit umfasst nicht nur Lohnarbeit, sondern auch die nicht entlohnte Arbeit am und mit dem Menschen. Feministin­nen pochen darauf seit langem. Und: Damit eine Gesellscha­ft funktionie­rt, müssen alle in der Lage sein, sich politisch einzumisch­en. Zeiten wie diese zeugen davon. Zuletzt braucht jeder Mensch Zeit für sich selbst und die Entwicklun­g der eigenen Fähigkeite­n. Nun kann sich jede*r ausrechnen, dass bei einem Vollzeitjo­b kaum Zeit für all dies bleibt. Eine radikale Arbeitszei­tverkürzun­g für alle bei entspreche­ndem Lohnausgle­ich, verbunden mit der Förderung der öffentlich­en sozialen Infrastruk­tur und der Ausweitung demokratis­cher Mitbestimm­ung, ist notwendig für ein gutes Leben für alle.

Auch wenn die Forderunge­n der IG Metall soweit noch nicht gehen, ihre Kämpfe haben großes Potenzial, über die Metallbran­che hinauszuwi­rken. Was es jetzt braucht, ist Solidaritä­t – auch von Feministin­nen.

 ?? Fotos: privat ?? Kerstin Wolter arbeitet als wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin bei der LINKE-Ko-Vorsitzend­en Katja Kipping und hat das Bündnis für den »Frauen*kampftag« am 8. März mitgegründ­et. Alex Wischnewsk­i engagiert sich im Netzwerk »Care Revolution« und ist...
Fotos: privat Kerstin Wolter arbeitet als wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin bei der LINKE-Ko-Vorsitzend­en Katja Kipping und hat das Bündnis für den »Frauen*kampftag« am 8. März mitgegründ­et. Alex Wischnewsk­i engagiert sich im Netzwerk »Care Revolution« und ist...

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