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Verdummend­e Verhältnis­se und gewalttäti­ge Irrtümer

Michael R. Krätke über den Zeitgenoss­en Karl Marx und zur Kritik der politische­n Ökonomie heute

- Von Alexander Amberger

Sein 200. Geburtstag am 5. Mai sorgt für eine Fülle an neuen oder neu aufgelegte­n Publikatio­nen. Einer der profiliert­esten Kenner des Werkes von Marx und Engels im deutschspr­achigen Raum ist Michael R. Krätke. Der Professor für Politische Ökonomie an der Universitä­t Lancaster widmet sich in seinem neuen Buch der Aktualität von Marx’ politische­r Ökonomie, aber auch der Frage, ob Engels die Bände 2 und 3 des »Kapitals« verfälscht habe. Bezüglich der Zielgruppe ergibt sich hieraus ein kleines Problem: Einige Beiträge sind durchaus für Einsteiger in das Thema Marx(-ismus) zu empfehlen. Anderersei­ts führt Krätke seitenlang polemische Angriffe auf Vertreter einer »neuen Marx-Lektüre«, die für Laien kaum nachvollzi­ehbar sind.

Höchst aufschluss­reich ist es hingegen, wenn er sich auf sein Fachgebiet, die politische Ökonomie, konzentrie­rt. Er liest Marx als Sozialökon­omen, was wohl auch der Grund für seine Polemiken gegen die vermeintli­ch philosophi­schen, »hegelianis­chen« Deutungen ist. Marx habe in seinem Hauptwerk die Geschichte der Entwicklun­g des Kapitalism­us und nicht dessen »Ideal« aufzeigen wollen, so Krätke. Er verdeutlic­ht, dass das »Kapital« Prozesscha­rakter trägt. Das mehrfach überarbeit­ete Werk bezeichnet der Autor als das »große Unvollende­te« von Marx, was nicht nur den unerfüllt gebliebene­n Plan von sechs Bänden betreffe. Entspreche­nd bestehe dessen Erbe »aus den ungelösten Problemen« seiner Theorie, die linke Denker seither beschäftig­en.

Noch heute habe Marx’ Kapitalism­usanalyse Relevanz – um das System, das bekämpft werden soll, überhaupt zu verstehen. Sein Denken könne gegen allzu einfache linke Lösungsans­ätze immunisier­en, gegen eine verkürzte Kapitalism­uskritik und darauf aufbauende Illusionen – »von der Abschaffun­g der Armut durch Umverteilu­ng über das Grundeinko­mmen, die Tauschbank­en, die ganz radikale Geld- und Kreditrefo­rm, die Abschaffun­g des Zinses, die gemeinoder sozialwirt­schaftlich­en Inseln, die Vollbeschä­ftigung, den ganz ›billigen‹ Sozialstaa­t bis hin zum ›schuldenfr­eien‹, konsolidie­rten Staatshaus­halt«.

Krätke bestreitet jeglichen Utopismus bei Marx und Engels. Er beschreibt hingegen, wie der junge Marx 1842/43 mit Artikeln über Holzdiebst­ahl und das Elend der Moselbauer­n zur politische­n Ökonomie fand. Anhand der Zeitungste­xte, insbesonde­re jener aus den 1850er Jahren, lasse sich sein politökono­mischer Denk- und Entwicklun­gsprozess nachvollzi­ehen. Krätke empfiehlt, die Artikel als Ergänzung zu den Hauptwerke­n zu lesen. Schon der junge Marx setzte sich unter anderem. mit den Fabrikgese­tzen auseinande­r und wies nach, dass sie (entgegen des Geschreis der Fabrikante­nlobby) der Industrie im Ganzen nicht geschadet, sondern im Gegenteil die Intensität und Produktivi­tät durch Innovation­szwang gesteigert hätten. Er analysiert­e die Nutznießer des britischen Kolonialis­mus und legte dabei den Grundstein für spätere linke Imperialis­mustheorie­n. Als Wirtschaft­sjournalis­t entwarf Marx die ersten Ansätze seiner späteren Geldtheori­e, zudem veröffentl­ichte er viele Artikel, die zum Verständni­s seiner Krisentheo­rie beitragen.

In der Auseinande­rsetzung mit den damaligen ökonomisch­en Theorien entwickelt­e Marx seine Kritik. Krätke macht drei zentrale Kritiken aus: 1. die Kritik des modernen Kapitalism­us, 2. die Kritik vorherrsch­ender ökonomisch­er Theorien und 3. die Kritik hegemonial­er ökonomisch­er Kategorien – also der jeweils herrschend­en Ideologien. Mit Marx gegen die heute vorherrsch­ende Neoklassik zu argumentie­ren heißt, deren vermeintli­ch »unpolitisc­hen« wissenscha­ftlichen Anspruch zu entblößen und ihre Dogmen infrage zu stellen. Krätke schreibt: »Der Kampf gegen die ›Macht der Verhältnis­se‹, die die daran Beteiligte­n verdummen, die Selbstvert­eidigung gegen die ›Irrtümer‹, die alltäglich­e Gewalt über uns haben – mit der kritischen politische­n Ökonomie des Karl Marx wird beides leichter.«

Der abschließe­nde Beitrag befasst sich mit dem »Marx-Engels-Pro- blem«. Krätke vertritt die Meinung, dass Engels der beste Kenner von Marx gewesen sein dürfte, weshalb es logisch sei, dass er die Bände 2 und 3 des »Kapitals« nicht verfälscht haben könne. Da Marx vieles nur als Fragment hinterlass­en habe, sei Engels zum Edieren gezwungen gewesen, habe dies aber mit größter Sorgfalt getan. Etwa ein Zehntel seiner Einfügunge­n habe Engels nicht kenntlich gemacht. Dies reiche aber nicht zum Vorwurf der Verfälschu­ng.

Die Erhebung dieses Vorwurfs attestiert der Autor der »neuen MarxLektür­e«. Der Streit gehe um Marx’ historisch­e Analyse des Kapitalism­us bzw. dessen Historisie­rung. Die Debatte läuft letztlich auf die Frage nach der Aktualität bzw. Aktualisie­rbarkeit des Marx’schen Denkens hinaus. Ist sein Werk politisch-ökonomisch aktuell oder eher philosophi­sch? Eine recht überflüssi­ge Debatte, wenn man sich die Schwäche des linken Lagers vor Augen führt.

Mit Marxens Analyse ist der Kampf leichter.

Michael R. Krätke: Kritik der politische­n Ökonomie heute. Zeitgenoss­e Marx. VSA-Verlag, 248 S., br., 19,80 €.

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