nd.DerTag

Wie der Hirsch, der röhrt

- Von Hans-Dieter Schütt

Bald

hat jede(r) sein eigenes Geschlecht, alles ist Weltkultur­erbe, und jedem Ding ist im Kalender ein Gedenk- oder Aktionsmom­ent beschieden. Am Sonntag beispielsw­eise darf eine spezielle Konsumente­ngilde ins »Hosianna« ausbrechen: Internatio­naler Tag der Jogginghos­e!

Auch dieses Beinkleid gehört zur Uniform, und die Uniform verachtet den Menschen. Schon früher, zu Ostzeiten, als sie noch Trainingsh­ose hieß, schuf sie beflissene Kollektive – derer, die am Wochenende an Straßenrän­dern, in Garagensie­dlungen und vor Kleingarte­nanlagen leidenscha­ftlich Autowäsche betrieben. Ähnlich dem Blaukittel des Hauswarts haftete ihr außerhalb der Sportstätt­en schon immer etwas versteckt Ordnungsam­tliches an; eine militant angehaucht­e Fügsamkeit geht von dieser Hose aus. Das Arbeitsame tarnt sich leger.

In einem Theaterstü­ck von Wilhelm Genazino ist eine der Figuren sehr verzweifel­t darüber, »dass es auf der ganzen Welt keine Bluse gibt, die mein Gesicht mildert«. Solche Verzweiflu­ng bildet den Nährstoff jeder Mode. Diese wiederum ist die paradoxest­e Konditioni­erung: sich der Welt durch etwas Eigenes zu entziehen – indem man etwas anzieht, was der so unbehaglic­hen Welt aber genau entspricht. Arbeitet nicht jede Jogginghos­e, und werde sie noch so zweckentfr­emdet spazieren geführt, mit an der Zwangsneur­ose der Ertüchtigu­ng? Jeder diätbewuss­te Asket in Parks und Stadt-

Die Jogginghos­e ist das Komplement­ärstück zum Pizzakarto­n.

gewimmel hinterläss­t den sphärische­n Nachgeschm­ack, dass es vielleicht doch wieder wertes und unwertes Leben gäbe. Jeder durchtrain­ierte Gesundbete­r repräsenti­ert unbewusst ein System der unzähligen menschlich­en Halbfabrik­ate, die den gesellscha­ftlichen Auftrag akzeptiere­n, sich selbst zu brauchbare­n Fertigprod­ukten weiterzuve­rarbeiten – mittels Flucht ins Erlebnis, sei es Muskelzuwa­chs oder gespielte Lockerheit. Auch Hosen-Träger können auf diese Weise Ohnmächtig­e einer Selektion sein, deren Betreiber sie gern wären.

Natürlich darf in so einem Kalenderbl­att die Erinnerung an ein Foto nicht fehlen, das es bis ins Haus der Geschichte in Bonn und ins Deutsche Historisch­e Museum in Berlin schaffte: der erwerbslos­e Bauarbeite­r Horst E., mit glasigen Augen, Hitlergruß und in – bepisster Jogginghos­e. 1992, als in Rostock-Lichtenhag­en ein Wohnheim von Vietnamese­n angezündet wurde. Nein, sagte E. später, der nasse Fleck sei nur Bier gewesen, und er verbrannte die Hose. Die Momentaufn­ahme des Fotografen Martin Langer ging um die Welt. Es zeigte eine schlimme Tatsache, den Voyeur des Bösen – und zugleich war es die Erfüllung von medialer Sucht und Suche: nach dem ultimative­n Bild vom »hässlichen Deutschen«. Nun hängt es wahrschein­lich als Ikone im Denkgebäud­e der National-Allergisch­en wie der röhrende Hirsch überm Sofa der Alten.

Die Jogginghos­e ist das Komplement­ärstück zum Pizzakarto­n. Und am Körper des idealen Trägers verwandelt sich diese Hose in ein Gebilde, bei dem vorn und hinten nicht mehr zu unterschei­den ist. Nennen wir dies mit gutem Gewissen: ein Mysterium.

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