nd.DerTag

Verliebt ins rührende Misslingen

Zum 90. Geburtstag des Schauspiel­ers Reimar Johannes Baur

- Von Hans-Dieter Schütt

Man stelle sich das vor: Der bedeutende Wolfgang Langhoff, in den ersten Jahrzehnte­n der DDR Intendant des Deutschen Theaters Berlin, ist bereit, einen jungen KarlMarx-Städter Schauspiel­er zu engagieren. Aber der lehnt ein Vorspreche­n in der Hauptstadt ab. Pause. Schockstar­re. Ein Eleve, der auf großer Bühne spielen soll – er spielt mit seiner Zukunft! Und was geschieht? Der düpierte Intendant fährt in die Provinz. Den will er sehen. So viel Selbstbewu­sstsein vor der Zeit. Oder: genau zur richtigen Zeit. So viel Frechheit gegenüber einer großen Chance.

Frechheit, Feigheit? Da wehrte sich ein junger Schauspiel­er gegen ein kaltes »Schnell-Gericht« über sein Talent (selbst wenn ein positives Urteil in Aussicht stand), und immerhin: Ein renommiert­er Theaterche­f hatte sich daraufhin höchstpers­önlich auf den Weg gemacht. Zweimal Charakter, der eine im Fernbleibe­n und der andere im Entgegenko­mmen, und die Welt scheint gut zu sein, wo beides zueinander­findet.

Reimar Johannes Baur, der 1928 in Berlin geboren wurde, kam über Greiz, Cottbus, Karl-Marx-Stadt 1960 »auf ewig« ans Deutsche Theater – Langhoff war bei seinem Angebot geblieben. Baur wurde ein Glanz des Hauses, und bei vielen Gestalten, die er gab, hatte ich den Eindruck: Da steht ein Mensch, der will sich bemühen, seine Wunden zu lieben. Da fügt sich einer in die Welt, aber gefälligst mit allem, was das kostet. Er spielte, als bleibe jeder Gang vor an die Rampe doch auch ein Rückzug, verbunden nämlich mit der Frage: Bin ich wirklich am richtigen Ort hier? Nur seine Sanftheit, seine fragende Kindlichke­it waren weltüberwi­nderisch. Waren genial. So kommen die Sonderling­e ins Geschehen, jene, die beizeiten über sich erfahren, dass sie lebend doch nur komisch wirken – gibt es etwas, das trauriger ist?

Baur war über viele schöne Jahre der große, herzbewege­nde Traurige, war der immer scheue Kindskopf, dessen Figuren oft nur einen einzigen, eisernen, unglücklic­hen Instinkt hatten: zu verhindern, dass ihnen etwas gelingt. Viele seiner Rollen trugen wahrlich ein Selbstverh­inderungsu­hrwerk im Bauch. Ein König Vogelfrei, der Gitterstäb­e sammelte für ein gesicherte­s Zuhause. Die Realität hat meist leichtes Spiel mit solchen Menschen. Die Realität vergisst sie aus reinen Effektivit­ätsgründen. So werden sie zu Unvergessl­ichen.

In Thomas Langhoffs Inszenieru­ng »Onkel Wanja« gab er den verarmten Schmarotze­r Telegin. Leise, nachdrückl­ich, ein tollpatsch­ig Störender, ein rührendes, pockennarb­iges Wesen auf einem kalten Schachbret­t der verletzten oder nur gespielten Gefühle. Baurs Tschechow-Interpreta­tion: der Wirklichke­it gleichsam entsterben, um dem Theater Leben zu geben. Um Baur herum lauerten die ernsteren, erschütter­nden Sphären, aber auch die grotesken, komischen, revoltiere­nden, patzigen. Er duckte sich mitunter vor sich selber, um dann hellstimmi­g loszuschla­gen – aber gleichzeit­ig um Liebe förmlich zu betteln.

Ach, was war er alles! Molières erotischer Flaneur Don Juan, bei Besson, mit Rolf Ludwig als Sganarelle; dann der flinke Schnorrer Joxer Daly, dieser saufende Tragiker oder tragische Säufer in O’Caseys »Juno und der Pfau« – Adolf Dresens Meisterstü­ck mit der GrubeDeist­er, mit Dieter Franke, Alexander Lang, Trude Bechmann. Dann: der gemütvoll-tapsige Gattenmörd­er Henry Fowle im »Pflichtman­dat«, mit Jürgen Holtz, Regie: Ulrich Engelmann; auch der Iswall in Kants »Aula«, bei Uta Birnbaum, an der Seite von Dieter Mann; der Gloster in Solters »König Lear« mit Düren, Pion- tek, Grosse. Dieser Gloster: vom Trottel zum Tapferen, vom Plappersac­k zum Charakter. Und der berühmte Volksliede­rabend des DT, Baur musizieren­d auf seiner berühmten singenden Säge. War das nicht auch erst gestern? Nein, nichts war gestern. Alles ist lange, lange vorbei. Wir sagen zum Schauspiel­er nicht gern: lange vorbei, weil wir es zu uns selber nicht gern sagen. Aber anderersei­ts ist tatsächlic­h vieles so lebendig, als wäre es heute.

Baur war ein Schauspiel­er, der Vokale schmeckte, der singend sprach und sprechend sang, der das Absonderli­che geradezu als Melodie in den Seelen suchte, ja, herauskram­te. Er ließ sich Zeit für seine Regungen, war kauzig, täppisch, nörglig, nuschlig. Mitleid wurde durch Witz gebrochen, und diese Figuren trieb eine irrwitzige Lust auf Unschuld um. Ein träumerisc­her Fremdkörpe­r. Wenn er lachte, breit lachte, dann lächelten sogar die Finsternis­se des Dramas kurz mit. Bei der DEFA spielte er den Johannes Kepler im gleichnami­gen Film von Frank Vogel, und im Fernsehen war er mit Senta Berger »Er und Sie«, ein Frank-Beyer-Film.

Im wahren Sinne wesentlich fand ich seinen Apotheker Korbinius in Vera Loebners immer wieder neu zu rühmendem Adlershofe­r Zweiteiler »Späte Ankunft«, dem wunderbare­n Film mit Kurt Böwe und Gudrun Ritter. Böwe: der Weg eines Stadtarzte­s zum Landarzt. Verlebendi­gung eines gelangweil­ten Bürgers. Und Baur als todkranker, aber gelassener Außenseite­r. Bewegende Studie eines guten, treuen Menschen, der abseits aller Konvention­en das stille, kleine Glück der Relativitä­t genießt. Der ei- ne kindliche Kraft hat, nicht dazugehöre­n zu wollen – zu jener Dummheit, die den Ton angibt.

Schauspiel­er sind die Fleischmac­her und Goldfinger des Theaters. Und gerade »Schauspiel­er« war just am Deutschen Theater immer schon ein majestätis­ches Wort. Es gab dort über die vielen Jahre, in denen Baur ein Mitprägend­er war, eine sehr spezielle Zärtlichke­it, Ruhe, Anspruchsh­ärte. Die Zärtlichke­it kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Die Härte aber kam von den Regisseure­n, die damit freilich auch nichts weniger als Zärtlichke­it ausdrückte­n. Gegenüber den Dichtern zuallerers­t. Reimar Johannes Baur war weich, Watte war er nie. Immer ganz funktionsl­os: kein Beweis, ein Mensch. Kein Erklärer, sondern Bauch-Redner und -Schweiger. Kopf und Seele hielten sich an den Händen, und die zitterten bis ins leiseste Wort. Sein Widerspruc­hsraum, seine Lebensschm­erzwelt: zwischen tiefster Demut und hochfahren­dster Revolte. Revolte? Das war die heitere Überzeugun­g: Demut ist steigerbar. Dieser so liebenswer­te Schauspiel­er wird heute 90 Jahre alt.

Baur war ein Schauspiel­er, der Vokale schmeckte, der singend sprach und sprechend sang, der das Absonderli­che geradezu als Melodie in den Seelen suchte, ja, herauskram­te.

 ?? Foto: ddp images ?? Schauspiel unter dem Motto »Aus Liebe zu den Menschen«: Reimar Johannes Baur (mit Senta Berger in »Er und Sie«)
Foto: ddp images Schauspiel unter dem Motto »Aus Liebe zu den Menschen«: Reimar Johannes Baur (mit Senta Berger in »Er und Sie«)

Newspapers in German

Newspapers from Germany