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Dinge mit anderen Augen sehen

Karl Ove Knausgård schreibt Briefe an seine ungeborene Tochter

- Von Guido Speckmann

Sein sechsbändi­ges autobiogra­fisches Romanwerk »Min Kamp« brachte ihm weltweiten Erfolg. Doch was folgt nach diesem gefeierten Magnum Opus? Der norwegisch­e Autor Karl Ove Knausgård hatte eine so schöne wie überzeugen­de Idee: Er schreibt Briefe an sein viertes, zunächst noch ungeborene­s Kind. In diesen will er der Tochter die Welt zeigen, »wie sie ist und wie sie uns umgibt, die ganze Zeit«.

Dazu gehören zuallerers­t ganz alltäglich­e Dinge wie Kaugummis, Münzen, Autos, Ohren, Telefone oder Kanaldecke­l. Darüber hat Knausgård Mini-Essays von meist nur rund drei Seiten geschriebe­n, sie Monaten zugeordnet und in Büchern veröffentl­icht, die nach den Jahreszeit­en benannt sind. »Im Herbst« und »Im Winter« sind bereits in deutscher Übersetzun­g erschienen, mit der Publikatio­n von »Im Frühling« und »Im Sommer« im März bzw. Mai wird die Jahreszeit­en-Chronik vollständi­g auf Deutsch vorliegen.

Über so Alltäglich­es wie Stühle, Zucker oder Zahnbürste­n muss man schreiben können, ohne dass es banal klingt. Knausgård gelingt das. Er betrachtet Phänomene auf eine ganz andere Weise – und mit ihm der Leser. Zum Beispiel, wenn er über Stühle schreibt: »Das dem Stuhl eigene Wesen der Alleinherr­schaft haben wir so verinnerli­cht, dass zwei Erwachsene, die sich einen Stuhl teilen, undenkbar erscheinen, egal, ob sie nebeneinan­der Platz nehmen oder der eine auf dem Schoß des anderen sitzt.« Der Stuhl habe immer etwas Abweisende­s, obwohl er grundsätzl­ich für jeden offen sei, schreibt der in Schweden lebende Autor und erachtet das als exemplaris­ch für die ganze Gesellscha­ft. Überall gebe es zu viele Bewerber für jeden Posten – wie beim Kinderspie­l »Reise nach Jerusalem«, wo Stühle bekanntlic­h eine zentrale Rolle spielen.

Über Thermoskan­nen schreibt Knausgård, dass sie eine Art Verlängeru­ng des eigenen Heims in der Welt sind, und den Kaffee in ihnen bezeichnet er als »unser demokratis­chs- tes und klassenlos­estes Getränk«. Man könne die Thermoskan­ne im Unterschie­d zum Bratenwend­er oder Töpfen überall mit hinnehmen, ohne dass die Nase gerümpft wird – mit einer Ausnahme: zum Besuch beim Nachbarn. Dann heiße es: Du bringst doch wohl nicht deinen eigenen Kaffee in unser Wohnzimmer mit?

Besonders herausrage­nd ist sein Text über Tanker, weil er individuel­le Erinnerung­en mit ökonomisch­politische­n Entwicklun­gen verbindet. Ein Traum führt Knausgård in die Landschaft seiner Kindheit, in die norwegisch­e Hafenstadt Arendal. Früher sah man dort auf Bildern und Fotografie­n viele Segelschif­fe. Sie verschwand­en, als sie durch Tanker ersetzt wurden. Doch die sieht man nicht im Hafen liegen, weil sie nur auf dem Papier Reedern in Arendal gehören. Pausenlos sind sie in der Ferne unterwegs – bis zur Ölkrise 1973. Plötzlich ohne Aufträge, kehren sie heim. »Sie brüteten über den Häusern und Felshängen. Sie lagen vollkommen reglos, wie eingekapse­lt in sich selbst, es gab keine Eingänge zu ihnen ...«

Aber Knausgård schreibt in den beiden bereits erschienen­en Büchern nicht nur über Alltagsgeg­enstände, sondern auch über Otter, Eulen und Dachse oder über Abstraktes wie Einsamkeit, Unordnung und Vergebung. Es ist diese Mischung, die die Lektüre so abwechslun­gsreich macht. Während man sich noch an seinen Ausführung­en über Toilettend­eckel erfreut, ist man schon gespannt, worum es im nächsten Mini-Essay geht. Natürlich gefällt nicht jeder Text, manches erscheint als zu abwegig, anderes als zu banal. Sehr reizvoll ist aber, wie Knausgård auch in diesen kleinen Texten Biografisc­hes einfließen lässt. Der Leser fühlt sich nicht selten an seine Hauptwerke »Träumen«, »Sterben« oder »Lieben« erinnert. Er beschreibt Alltagsrou­tinen in der Küche, Geburtstag­srituale, Ausflüge mit den Kindern, und natürlich geht es auch um seine – inzwischen geschieden­e – Frau Linda. Im zweiten Band wird der Leser zudem Zeuge, wie die Tochter geboren wird. Aus den Briefen an eine ungeborene werden Briefe an eine geborene Tochter.

Ohne Zweifel wird Knausgård mit seinem autobiogra­fischen Werk »Min Kamp« im Gedächtnis bleiben, doch seine Jahreszeit­en-Chronik hat ihre ganz besonderen Reize. Dazu gehören nicht zuletzt auch die schönen Illustrati­onen.

Kaugummis, Autos, Telefone oder einen Tanker: Kleine Essays über die Welt, »wie sie ist und wie sie uns umgibt«

Karl Ove Knausgård: Im Winter. Mit Bildern von Lars Lerin, geb., 310 S.; Im Herbst. Mit Bildern von Vanessa Baird, geb., 288 S. Beide aus dem Norwegisch­en von Paul Berf, beide Luchterhan­d, je 22 €.

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