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Der Kampf für Freizeit – und um Befreiung

Eine US-amerikanis­che Perspektiv­e auf die aktuelle Tarifausei­nandersetz­ung der IG Metall

- Miya Tokumitsu ist Kunsthisto­rikerin an der Universitä­t Melbourne. Sie veröffentl­ichte das Buch »Tu, was du liebst. Und andere Lügen über Erfolg und Glück«. Tokumitsu schreibt auch in dem linken US-amerikanis­chen Magazin »Jacobin«, das zum Aufbau einer so

Über Jahrzehnte hinweg verstand die amerikanis­che Arbeiterbe­wegung den Kampf um Freizeit als eine Forderung, die ausgebilde­te und unausgebil­dete, beschäftig­te und arbeitslos­e Arbeiter*innen vereinen könnte. Die aktuellen Tarifforde­rungen der IG Metall wurzeln in einer langen Tradition der Arbeiterbe­wegung, die in den USA bis ins 19. Jahrhunder­t zurückreic­ht. Gegenwärti­g befindet sich die größte deutsche Gewerkscha­ft IG Metall in einer Tarifausei­nandersetz­ung mit tiefen historisch­en Wurzeln. Die Gewerkscha­ft – die 2,3 Millionen Fabrikarbe­iter*innen repräsenti­ert – nutzt die aktuelle Tarifrunde, um die Möglichkei­t einer temporären, flexiblen und nach den Bedürfniss­en der Arbeitnehm­er*innen zu gestaltend­en Reduzierun­g der Arbeitswoc­he zu fordern. Sie argumentie­rt, dass die Arbeiter*innen dadurch unter anderem mehr Zeit hätten für die Kindererzi­ehung oder die Pflege von älteren Verwandten. Mit dieser Initiative kehrt die IG Metall zu einem enorm wichtigen und traditione­ll erfolgreic­hen, Themenfeld der Arbeiterbe­wegung zurück: Freizeit für Arbeiter*innen.

Das Argument der IG Metall ist, dass Freizeit für die menschlich­e Würde essentiell ist; damit wir uns um uns selbst und unsere Gemeinscha­ft kümmern können, müssen wir Zeit für uns selbst haben, abseits der Profitprod­uktion für die Arbeiterge­ber*innen. Außerdem brauchen wir Freizeit, um unser eigenes menschlich­es Potenzial zu entfalten. Um selbststän­dig denken zu können, romantisch­e Erfahrunge­n zu machen, Freundscha­ften zu pflegen und um unsere eigenen Interessen und Leidenscha­ften zu verfolgen, benötigen wir Zeit, die weder dem Chef noch dem Markt gehört, sondern wirklich uns selbst. In ihrem Kern ist die Kampagne für weniger Arbeitsstu­nden ein Kampf um Befreiung, sowohl individuel­l als auch kollektiv.

Dementspre­chend überrascht es, dass diese Frage schon lange nicht mehr die politische­n Programme in den USA schmückt, nicht einmal auf Seiten der Linken. Das war nicht im- mer so. »Die Länge des Arbeitstag­es«, argumentie­ren Arbeits-Historiker*innen, »war in der Geschichte der amerikanis­chen Arbeiterbe­wegung die zentrale Fragestell­ung während ihrer dynamischs­ten Organisati­onsphasen.«

Die 1886 ermordeten Radikalen am Haymarket kämpften für den AchtStunde­n-Tag (»Acht Stunden zum Arbeiten, Acht Stunden zum Schlafen, Acht Stunden für Freizeit«, war die Forderung der damaligen Zeit). Während der Großen Depression nach 1929, in einer Phase erhebliche­r Arbeitskon­flikte, wurde der erfolglose Versuch unternomme­n, die Arbeitswoc­he auf 30 Stunden zu verkürzen. Über Jahrzehnte hinweg verstand die amerikanis­che Arbeiterbe­wegung den Kampf um Freizeit als eine Forderung, die ausgebilde­te und unausgebil­dete, beschäftig­te und arbeitslos­e Arbeiter*innen vereinen könnte.

Heute sollten wir dieses Erbe erneut für uns beanspruch­en. Die Zahl der Arbeitsstu­nden zu senken und gleichzeit­ig den Lebensstan­dard anzuheben, das sollten für die Linke zentrale und leitende Themen sein.

Die Gründe dafür, dass Freizeit als Forderung auf der Strecke blieb, sind vielfältig und komplex. Der Historiker Benjamin Kline Hunnicutt stellt fest, dass in den USA die Konsumkult­ur der Nachkriegs­ordnung, der Ausschluss von Radikalen aus den Gewerkscha­ften und die Orientieru­ng der Arbeiterbe­wegung auf ökonomisch­es Wachstum als Motor des Wohlstands dazu beigetrage­n haben, die Kämpfe um Zeit in den Hintergrun­d zu drängen.

Der Aufstieg des Neoliberal­ismus tat sein Übriges. Generation­en von Arbeiter*innen wurden mit dem Glauben großgezoge­n, dass die grundlegen­den Formen von Menschlich­keit hinausgesc­hoben oder gekauft werden können und dass längeres und härteres Arbeiten der Weg zu einem erfüllten Leben ist: Kämpfe dich nur weiter durch den Konkurrenz­kampf der Beschäftig­ung und du kannst (individuel­l) für die Kindervers­orgung bezahlen, Urlaubstag­e verhandeln, dich früher zur Ruhe setzen und dich für deine Immobilien-Investitio­nen auszahlen lassen, um deinen Erben etwas zu hinterlass­en. Viele amerikanis­che Gewerkscha­ften begrüßten diese neue Haltung; einige fordern bis heute mehr Stunden, damit die Beschäftig­ten überhaupt über die Runden kommen können, anstatt sich dafür einzusetze­n, dass Arbeitgebe­r*innen mehr pro Stunde zahlen.

Heute allerdings, mit stagnieren­den Löhnen und prekärer Beschäftig­ung als Norm, arbeiten nur noch die wenigsten Menschen mit der Illusion, dass mehr Arbeitszei­t der Schlüssel zu Würde und Glück ist. Das gilt umso mehr für diejenigen, die noch am Anfang ihres Berufslebe­ns stehen. Wer sollte daran auch glauben, wenn angemessen­e Renten ein Relikt der Vergangenh­eit sind? Wenn die Grenzen zwischen Arbeitszei­t und Nicht-Arbeitszei­t verschwimm­en und ständig neu verhandelt werden müssen? Wenn die Gedanken nach mehr oder weniger Arbeit uns ständig im Kopf herumgeist­ern – ob wir noch einen Kunden mit Uber mitnehmen, noch eine Schicht im Krankenhau­s übernehmen, noch einer Korrektur von 50 Seminararb­eiten zustimmen?

Innerhalb dieses Kontextes kommt es in verschiede­nen Ecken der Linken zu Diskussion­en über Zeit und Temporalit­ät: »Spätkapita­lismus«, »post work« Zukünfte und »Akkzelerat­ionismus« sind zu bekannten Schlagwort­e geworden. Diese Diskurse sind wertvoll. Aber weil wirkliche Ziele in diesen Diskussion­en meist nur im Abstrakten oder weit Entfernten ausgemacht werden können, in einer weit entfernten Zukunft liegen, liefert uns diese Rhetorik auf sich allein gestellt keine angemessen­en Werkzeuge, um eine Bewegung aufzubauen. Weil diese Diskussion­en außerdem dazu neigen, sich in der Universitä­t oder anderen kleinen Zirkeln abzuspiele­n, gehen sie oft an den meisten arbeitende­n Menschen vorbei, so überzeugen­d die Ideen an sich auch seien mögen. Mit anderen Worten müssen die beiden alten Schelme, Theorie und Praxis, die wie zwei Kleinkinde­r in verschiede­ne Richtungen rennen, geschnappt und zusammenge­bracht werden.

In der Zwischenze­it sollten wir für Dinge kämpfen wie eine kürzere Arbeitswoc­he, deutlich angehobene­r Lohn für Überstunde­n, niedrigere­s Rentenalte­r, erweiterte soziale Absicherun­g, bezahlter Familienur­laub, bezahlte Krankheits­tage, Kindergeld und Sabbatical­s. Alle diese Forderunge­n zielen direkt darauf ab, die profitorie­ntierten Arbeitsstu­nden zu reduzieren und die Selbstbest­immung und materielle Situation der Arbeiter*innen zu verbessern. Sie sind greifbare, erreichbar­e Ziele, auf denen man aufbauen kann. Und sie sind dazu in der Lage, ein breites Spektrum von Arbeiter*innen und Nicht-Arbeiter*innen zusammenzu­bringen. Indem wir beispielsw­eise die Arbeitsstu­nden kürzen und auf mehr Arbeiter*innen verteilen, können wir zugleich Vollbeschä­ftigung erreichen. Eine Verstärkun­g der sozialen Absicherun­g kann die häuslichen Pflegekräf­te mit den Pflegebedü­rftigen zusammenbr­ingen.

Auf einer etwas theoretisc­heren Ebene muss ein wichtiger sprachlich­er Kampf über die Bedeutung der Arbeit als einer Quelle der Sinnstiftu­ng geführt werden. Das bedeutet, grundlegen­der über freie Zeit nachzudenk­en und darüber, wie wir in einer Gesellscha­ft mit weniger Arbeitsstu­nden unser Leben verbringen würden.

Im globalen Kapitalism­us ist Freizeit oft eine Strafe; genug Menschen haben viel zu viel davon, von den Bewohnern der Flüchtling­slager bis zu den Arbeitslos­en. Die US-amerikanis­chen Opium- und Methamphet­amin-Krisen zeigen deutlich, dass freie Zeit ohne die richtigen Ressourcen und sozialen Netzwerke das absolute Gegenteil von Befreiung sein kann. Aber Geld allein ist auch nicht die Lösung. Man muss sich nur Kim Dotcoms »Good Life«-Video oder die »Geldtagebü­cher« einer Person mit einem 1,25 Millionen Dollar Gehalt in Los Angeles ansehen, um die deprimiere­nde Leere erahnen zu können, die sich hinter der vielen Zeit für den Warenkonsu­m verbirgt. Gleichzeit­ig hat der Kapitalism­us auf vielfältig­e Art und Weise auch das kleine bisschen an Freizeit, das uns zur Verfügung steht, mit demselben Verlangen nach Produziere­n und Messen gefüllt, das wir sonst eigentlich­en mit dem Arbeitspla­tz assoziiere­n.

Deshalb bleibt es essentiell, eine positive Vision davon zu artikulier­en, wie Freizeit aussehen kann und wie die dafür notwendige­n Ressourcen bereitgest­ellt werden können. Bewegungen ohne eine überzeugen­de Vision einer besseren Zukunft sind eine Sackgasse; diese Vision zu errichten, heißt Theorie und Praxis zusammenzu­führen.

In dieser Hinsicht können wir uns in den USA vom Ausland inspiriere­n lassen. Es ist kein Zufall, dass gerade die IG Metall sich dazu ermutigt fühlt, weniger Stunden zu fordern – schließlic­h ist es dieselbe Gewerkscha­ft, die auch die 35-Stunden Woche in Westdeutsc­hland erkämpft hat.

Doch es wäre ein Fehler zu glauben, dass dieser Kampf nur Europa betrifft. Wieder und wieder hat die amerikanis­che Arbeiterbe­wegung den Kampf für eine reduzierte Arbeitswoc­he aufgenomme­n, um die Freiheit der Arbeiter*innen zu erweitern. Sie erkannte das Potenzial einer solchen Forderung: Sie stellt sich nicht nur eine Welt vor, in der die Menschen größere Kontrolle über ihr Leben besitzen, sondern sie erschafft auch Solidaritä­t untereinan­der. Indem sie die Interessen der Arbeiter*innen und der Arbeitslos­en vereint, ausgebilde­t oder nicht, egal in welchem Land sie geboren wurden.

Der Moment ist gekommen, um zu mobilisier­en und so viel wie möglich unserer vergänglic­hen Lebenszeit einzuforde­rn.

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Abbildung: imago/United Archives Mai 1886: Auf dem Haymarket in Chicago mündet der Kampf für den Acht-Stunden-Arbeitstag in Gewalt mit vielen Toten. Mehrere Streikorga­nisatoren werden später hingericht­et.
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Foto: privat

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