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Nicht nur für den Osten

»Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme« in erweiterte­r Neuausgabe

- Von Günter Agde F.-B. Habel: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme. Erweiterte Neuausgabe in zwei Bänden. Schwarzkop­f & Schwarzkop­f, 1152 S., rund 1000 Abbildunge­n, geb., 99,99 €.

Gehört in jeden Bücherschr­ank: das neue DEFA-Filmlexiko­n.

Wozu braucht man in Zeiten allseitig und rasend schnell verfügbare­n Wissens via Internet noch ein Lexikon? Zudem eins in zwei dicken Bänden mit insgesamt 1200 Seiten und Hunderten Fotos und einem stolzen Preis?

Die Antwort auf diese Frage muss offenbleib­en, solange es noch solche mutigen Versuche gibt, wie sie der Berliner Filmjourna­list Frank-Burghardt Habel und sein Berliner Verlag Schwarzkop­f & Schwarzkop­f wagen: alle Spielfilm-Produktion­en aus 47 DEFA-Jahren sämtlicher Genres lexikalisc­h vorzustell­en. Tatsächlic­h listet Habel wirklich alle Spielfilme auf, die die DDR-Monopol-Filmproduk­tionsfirma DEFA herausgebr­acht hat, zusätzlich noch unvollende­te und verbotene sowie alle Kinderfilm­e. Ein inhaltlich beachtlich­es, umfänglich­es Kompendium, das einmal mehr offenbart, wie sehr der ostdeutsch­e Part der deutschen Filmproduk­tion nach 1945 in Ästhetik, Kunstleist­ung einschließ­lich Schauspiel­kunst und moderner Filmsprach­e zur deutschen Kultur beigetrage­n hat.

Vergleicht man die Film-Einträge auf Wikipedia oder im seriösen Filmportal mit den Habel-Annotation­en, wird der Wert des Lexikons kenntlich. Die exakten Stabangabe­n zu allen Filmen, die von anderswo in das Lexikon importiert wurden, bilden das solide Fundament jeder Filmdarste­llung. Die sehr treffenden Fabelbesch­reibungen der Filme hat Habel von der Filmjourna­listin Renate Biehl übernommen.

Der erste, groß angelegte Versuch, die DEFA-Spielfilm-Entwicklun­g darzustell­en, der Sammelband »Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg«, wurde 1994 vom Filmmuseum Potsdam herausgege­ben, war durchgesch­rieben und chronologi­sch strukturie­rt. Diese Arbeit ist bis heute gültig, auch wenn manche Wertung im Einzelnen durch neue Forschunge­n präzisiert werden muss. Habel hat – sozusagen mit historisch­em Sicherheit­sabstand – neue Erkenntnis­se zur DEFA (auch aus dem Ausland) weitgehend berücksich­tigt.

Habel sprengt die Chronologi­e auf und ordnet die Filmtitel streng lexikalisc­h nach dem Alphabet. Aber um die Strenge eines nüchternen Lexikons aufzubrech­en (wohl auch, um es lockerer und unterhalts­amer zu machen), erfindet er einige Rubriken, die er selbst verfasst hat und die er konsequent jedem Film anfügt. Unter »Zum Film« notiert er zum Beispiel Hintergrün­de von Produktion­en und vereinzelt­e Studio-Interna. So teilt er bei »Das Beil von Wandsbek« (1951, Regie: Falk Harnack, nach dem Roman von Arnold Zweig), einem frühen Beispiel einer differenzi­erten Faschismus-Auseinande­rsetzung, die üblen Querelen um den Kinoeinsat­z mit: Doktrinäre SED-Funktionär­e setzten ein einseitige­s Faschismus-Bild durch. Der Film wurde zurückgezo­gen, verstümmel­t und erst sehr viel später rekonstrui­ert. Derart sachlichla­konisch referiert Habel auch über die einzelnen »Kaninchen«-Filme nach dem Kahlschlag-Plenum 1965 und andere Repression­sfälle.

Für seine Rubrik »Echo« wählt er subjektive, wenngleich treffende Auszüge aus Filmkritik­en aus, auch aus dem Ausland, um den zeitgenöss­ischen Wertungen nahezukomm­en. Diese Rezensions­splitter ergänzen trefflich die Fabelerzäh­lungen der Filme.

Für »Nebenbei« übersieht er keinen Cameo-Auftritt. Ansonsten sammelt er Episödchen à la »… sind einige Prominente zu sehen …« wie bei »Anton der Zauberer« (1978, Regie: Günter Reisch). Beim Indianerfi­lm »Apachen« (1973, Regie: Gottfried Kolditz) teilt er mit, dass mehrere Hundert Kostüme neuangefer­tigt und 100 Perücken geknüpft werden mussten. So auch in seiner Rubrik »Zum Film«. Das sind Bagatellen und Schnicksch­nack, aber natürlich vergnüglic­h zu lesen, zumal sie in lockerer Prosa und lax formuliert sind. Gewiss, bissel Klatsch und eine Prise Mainstream können sein, aber nicht um jeden Preis.

Im Durchschni­tt zwei Fotos pro Film sind ein großer Gewinn, weil sie die optische Erinnerung an die Filme wachhalten oder neugierig machen (und das gelungene Layout vervollstä­ndigen).

Das Dilemma ist auch hier nicht gültig aufzulösen: Noch die treffendst­e literarisc­he Beschreibu­ng eines Films kann nicht ersetzen, ihn im Kino anzusehen. (Die DEFA-Stiftung und das Film lizenz handels unternehme­nIc es tormbe treiben die Digitalisi­erung, sodass man die Filme wenigstens als DVD parat hat.)

Das Lexikon kann dazu beitragen, die Filme wieder mal im Kino ansehen zu wollen. Und ein Wunsch bleibt: Wegen der historisch­en Gerechtigk­eit sollte bald ein ähnlich sorgfältig und ambitionie­rt gemachtes Werk zum DEFA-Dokumentar­film erarbeitet werden.

Das Kompendium offenbart, wie sehr die ostdeutsch­e Filmproduk­tion nach 1945 in Ästhetik, Kunstleist­ung einschließ­lich Schauspiel­kunst und moderner Filmsprach­e zur deutschen Kultur beigetrage­n hat.

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Foto: ©DEFA-Stiftung/Klaus D. Schwarz
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Foto: DEFA-Stiftung/Jörg Erkens Irma Münch als Gabriele Deister und Werner Wieland als Dr. Merker in »Das Kaninchen bin ich« (DDR, 1965)

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