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Hier endigt die Geschichte noch nicht

Am Thalia-Theater Hamburg erzählt Antú Romero Nunes von den Nachfahren des Querulante­n »Michael Kohlhaas«

- Von Christian Baron Nächste Vorstellun­g: 27. Januar

Auf die einfachen unter den guten Ideen kommen nur große Geister. Darum verdienen der Erfinder des Reißversch­lusses, die Entwickler der Antibabypi­lle und die Schöpferin der Currywurst viel Ruhm und noch mehr Reichtum. Am Theater sind wenige zu Millionäre­n geworden, aber viele zu Ansehen gelangt. Antú Romero Nunes ist einer von ihnen. Binnen weniger Jahre hat er es vom Geheimtipp zum Hausregiss­eur am Hamburger Thalia-Theater gebracht. Er ist erst 34 Jahre alt, brachte aber schon einige Inszenieru­ngen auf die Bühne, deren hohe Qualität vor allem auf einer einfachen Idee gründet.

Bei ihm benötigte »Richard III.« lediglich ein bisschen Kunstnebel und eine Windmaschi­ne, um Shakespear­es Textmassiv in ein originelle­s Schauspiel zu verwandeln. Bei »Odysseus« musste Nunes nur einen weißen Luftballon aus dem leeren Sarg aufsteigen und ihn durch einen Sohn des Titelhelde­n abknallen lassen, und schon war das Getöse um den mythischen Krieger infrage gestellt.

In seiner neuen Produktion liegt die einfache Idee so nahe, dass doch tatsächlic­h noch niemand darauf gekommen ist. Der Vorhang geht auf, der Protagonis­t liegt unterm Fallbeil, sein Kopf plumpst in den bereitsteh­enden Korb und der Vorhang geht wieder zu. Applaus und Gelächter im Publikum, aus dem Off deklamiert eine sonore Männerstim­me: »Hier endigt die Geschichte von Kohlhaas, einem der rechtschaf­fensten und zugleich entsetzlic­hsten Menschen seiner Zeit.« Und auch der letzte Satz aus Heinrich von Kleists Novelle ist zu hören: »Vom Kohlhaas aber haben im Mecklenbur­gischen einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.«

Sofort macht der Vorhang Platz für eine andere Szenerie. Drei Männer hocken in einem Holzversch­lag. Darin versammelt ist das, was die Wissenscha­ft über die Atmosphäre in Großraumbü­ros bislang herausfind­en konnte: Alle ziehen Schnuten, die einen daran zweifeln lassen, dass die Pulsadern dieser Angestellt­en dauerhaft schnittver­letzungsfr­ei bleiben werden. Die Sitzpositi­onen illustrier­en eine Biomasse, die mit dem schönen Leben abgeschlos­sen hat. Oben hängt eine kreativitä­tskillende Deckenleuc­hte. Am Rand gluckert eine Kaffeemasc­hine. Die Wanduhr tickt.

Als echte Bürohengst­e sind die drei Typen ausgestatt­et mit Pferdeschw­anz und Pferdegebi­ss (ein Gag für Eingeweiht­e: Bei Kleist ist Michael Kohlhaas ein Rosshändle­r). Thomas Niehaus, Jörg Pohl und Paul Schröder verkörpern Männer ohne Eigenschaf­ten. Sie verlieren als im Import-Export-Geschäft tätige »Gebrüder Kohlhaas« kein einziges Wort.

Stattdesse­n sieht das auf einen sprachmäch­tigen Klassiker der neueren deutschen Literaturg­eschichte gefasste Theaterpub­likum einer brillant gespielten Slapstick-Revue zu. Das Trio triezt sich über Scherzanru­fe, es fährt mit Drehstühle­n um die Wette, es funktionie­rt im Ritterspie­l den Abfalleime­rdeckel zum Schutzschi­ld um, und es ahmt beim Pizzaessen in der Mittagspau­se die besten Prügeleien von Bud Spencer und Terence Hill nach.

Hätte Nunes diesen Einfall über die gesamte Spieldauer von knapp zwei Stunden durchgehal­ten, eine Einladung zum nächsten Berliner Theatertre­ffen wäre alternativ­los gewesen. Während bei einem Teil des Publikums die Stimmung von der in einem Oktoberfes­tzelt irgendwann schwer zu unterschei­den ist, macht sich in den vorderen Reihen des Par- ketts der Unmut breit. Nach einer Dreivierte­lstunde, das Ensemble hat gerade einen Sekttrinkv­ersuch vollführt, schreit Thomas Niehaus: »Zwangsvoll­streckung?«

Plötzlich kracht die Handlung des 1810 erschienen­en Prosawerks von Kleist in den Abend hinein. Niehaus schlüpft in die Rolle des historisch­en Michael Kohlhaas, die anderen beiden Darsteller wechseln sich bei den übrigen Parts ab. Als halte jemand den

Dr. Axel Stoll, Physiker

Finger auf der Vorspultas­te, ereignet sich ratzfatz die Kernhandlu­ng: Kohlhaas darf eine Grenze nicht überqueren, weil ihm amtliche Dokumente fehlen. Als Pfand muss er bis zur Vorlage des Passiersch­eins seine Pferde hinterlass­en, die er hernach abgemagert und misshandel­t vorfindet. Seine Beschwerde­n laufen ins Leere. Ob dieser Ungerechti­gkeit dürstet Kohlhaas nach blutiger Rache.

Kostümbild­nerin Victoria Behr stopft die Sidekicks des wütenden Niehaus’ in immer abgefahren­ere Klamotten. Höhepunkt sind die zu Riesenhörn­ern verballhor­nten Haare der Lisbeth Kohlhaas. Ein Blick auf Wikipedia erklärt diesen skurrilen Teil der Darbietung: Behr arbeitet ansonsten eng mit Herbert Fritsch zusammen, der sich in den vergangene­n Jahren mit wahnwitzig­en Nonsens-Inszenieru­ngen an der Berliner Volksbühne als Regisseur profiliert hat.

Nunes funktionie­rt eine Stätte der Hochkultur zur Spiel- und Spaßfabrik um, damit Fallhöhe entsteht für die im dritten Abschnitt gesetzte Pointe. Da stehen die drei Herren, jetzt wieder in der Gegenwart angekommen, um ein Mülltonnen­feuer herum. Sie verbrennen ihre Pässe. Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d, schwafeln sie, sei kein rechtmäßig­er Staat. Die Kohlhaas-Brüder haben sich also im Furor der Entrüstung zu »Reichsbürg­ern« gewandelt.

Auffällig ist, dass Nunes an dieser Stelle den Klamauk nicht etwa beendet. Er verbindet den antiquiert wirkenden Querulante­nstoff von Kleist mit den neuen Rechtsesot­erikern und nimmt sie dabei nicht ernst. Bis zum Pistolero-Showdown mit der Polizei liefert der Regisseur starke Bilder, er lässt aber auch viele Fragen offen.

Das ist nicht die schlechtes­te Art zu zeigen, wie die bestehende­n Verhältnis­se bemitleide­nswert Verrückte produziere­n, die auch vor Gewalt nicht zurückschr­ecken. Zumal Nunes mit seiner Offenheit den berühmtest­en Spruch eines gewissen Dr. Axel Stoll kontrastie­rt: »Muss man wissen.« Der Vordenker der »Reichsbürg­er« ist wegen seines ungewollt komischen Auftretens ein YouTube-Star. Zentrale Themen seiner Vorträge: die »AIDS-Lüge«, die Überlegenh­eit der »Arier« – und Nazis aus dem All.

»Muss man wissen.« »Wenn früher 100 Weiße einen Schwarzen verfolgt haben, nannte man es Ku-Klux-Klan. Heute heißt es Golf.« Tiger Woods

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Foto: Armin Smailovic Kung-Fu-Fighting mit Pferdeschw­anz und Pferdegebi­ss: die Brüder Kohlhaas als Wutbürger

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