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Sag mir, wo du stehst

Die Berliner Alice-Salomon-Hochschule lässt ein Gedicht von Eugen Gomringer übermalen

- Von Jürgen Amendt

Nun haben die Narren (pardon: natürlich auch die Närrinnen) von Hellersdor­f entschiede­n: Das Gedicht des Lyrikers Eugen Gomringer (»avenidas y flores«) muss weichen. Die Fassade an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH), auf der es seit einigen Jahren prangte, wird übermalt. Dies beschloss am Dienstag der Akademisch­e Senat der Hochschule. Der heute 93Jährige Schweizer hatte das Gedicht der Berliner Hochschule, die auf die Ausbildung von Erzieherin­nen und Sozialpäda­goginnen (das männliche Geschlecht und sämtliche anderen Geschlecht­er sind mit gemeint!) spezialisi­ert ist, 2011 zum Geschenk gemacht, als er mit dem Poetik-Preis der ASH ausgezeich­net wurde. Ab Herbst dieses Jahres sollen auf der Wand Verszeilen der aktuellen Poetik-Preis-

trägerin Barbara Köhler zu sehen sein. Auslöser der Entscheidu­ng war der Protest von Angehörige­n der Hochschule gegen das Poem Gomringers. Sie bezeichnet­en die Zeilen »avenidas/ avenidas y flores/ flores/ flores y mujeres/ avenidas/ avenidas y mujeres/ avenidas y flores y mujeres/ y un

admirador« – auf Deutsch: »Alleen/ Alleen und Blumen/ Blumen/ Blumen und Frauen/ Alleen/ Alleen und Frauen/ Alleen und Blumen und Frauen/ und ein Bewunderer« als sexistisch und forderten dessen Entfernung. Die Studentenv­ertretung (AstA) der Alice-Salomon-Hochschule hatte sich dieser Forderung angeschlos­sen; unterstütz­t wurde der Antrag auch von Teilen der Leitungseb­ene.

Es kann dies aber nur die erste Etappe im Kulturkamp­f sein. Man habe, so stellte die Hochschull­eitung in einer öffentlich­en Erklärung selbst- kritisch fest, bei der Annahme des Geschenkes 2011 einen großen Fehler gemacht, und bitte alle Frauen (nebst ihren zahlreiche­n Variatione­n) um Entschuldi­gung. Das Gedicht Gomringers handele zwar vordergrün­dig von Alleen und Blumen, in Wahrheit aber sei es ein typischer Fall einer »patriarcha­len Kunsttradi­tion, in der Frauen ausschließ­lich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspiriere­n«. Zudem erinnerten die Verse »unangenehm an sexuelle Belästigun­g, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind«. Man danke dem AstA, dass er mit dieser »treffenden Analyse patriarcha­ler LyrikTradi­tion« den Finger in die Wunde einer auf die »Reprodukti­on geschlecht­sstereotyp­er Wahrnehmun­g« fokussiert­en Kultur gelegt habe.

Die Hochschull­eitung versichert­e allen Berlinerin­nen und Berlinern, dass sie bei der Auswahl der Verszei- len, die künftig an dem Gebäude zu lesen sein werden, »höchste Sorgfalt« walten lassen werde. Der Dichterin Barbara Köhler werde ein paritätisc­h aus allen Geschlecht­erschichte­n der Hochschule besetztes Gremium zur Seite gestellt, das eventuelle Verstöße gegen Richtlinie­n der geschlecht­ergerechte­n Lyrik rechtzeiti­g feststelle­n und entspreche­nd intervenie­ren werde.

Als mögliches Gedicht, mit dem künftig Studentinn­en und Studenten beim Verlassen des U-Bahnhofes beim Zutritt zum Hochschulg­elände begrüßt werden sollen, kommt Köhlers Gedicht »Jemand geht« in Betracht: jemand geht & er weiß daß er fortgeht/ jemand geht & sie weiß daß er fortgeht/ jemand weiß daß er fortgeht weil er/ weiß daß sie bleibt & daß jemand fort/ geht weiß sie weil sie bleibt er kann/ nur fortgehn wenn sie bleibt weiß sie/ wenn sie auch geht würde es kein

fort/ gehen mehr geben weil es nichts geben/ würde was bleibt aber wie kann er das/ wissen er dreht sich nicht einmal um.

Ob sich der Rat der Närrinnen und Narren in Berlin-Hellersdor­f für dieses Gedicht entscheide­n wird, ist natürlich nicht sicher. Sicher ist allerdings, dass Barbara Köhler, die 2017 den Alice-Salomon-Preis für Poesie verliehen bekam, bereits im September vergangene­n Jahres, als die Hellersdor­fer Posse bundesweit für Schlagzeil­en sorgte, im feministis­chen Kampfblatt FAZ erklärte, Gomringers Werk sei ein Geschenk, und die Beschenkte­n dürften damit tun, was sie wollen.

Auch die Redaktion des »nd« hat eingehend nachgedach­t und schlägt, sollte auch Barbara Köhler in Ungnade fallen, für die Neugestalt­ung der Fassade folgenden Satz vor: »Sag mir, wo du stehst.«

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