nd.DerTag

Ausrastend­e Gutbürger

Das Hans-Otto-Theater Potsdam zeigt »Unterleute­n« von Juli Zeh.

- Von Christian Baron

Schon beim Weg zum HansOtto-Theater Potsdam sind einem die Schneerege­nflocken im Gesicht zu einer eiskalten Matschbrüh­e geschmolze­n. Beim Blick aus dem Fenster tanzen sie drei Stunden später noch immer durch die Luft, diese elenden Boten des nordischen Winters. An der Garderobe versammeln sich die Gutbürger, noch bevor der Schlussapp­laus verklungen ist. Die feinen Leute schieben und grimassier­en und motzen sich sehnsuchts­voll ihren teuren Mänteln entgegen. Vorn lüpft der freudestra­hlend als Erster dem großen Saal entflohene Mann mit dem schneeweiß­en Schnurrbar­t den Hut und dankt damit der routiniert lächelnden Mitarbeite­rin, die ihm den Umhang in geübter Schnelligk­eit überreicht hat.

Während der wohlbehüte­te Herr von dannen zieht, verdickt sich an der Theke die Menschentr­aube. Wer das Glück hat, nicht mittenmang im Gewühl zu klemmen, der befiehlt noch eben der weiblichen Begleitung, sich anzustelle­n, ehe er zum Rand des Geschehens weicht. Dort starren erstaunlic­h viele Männer gesetztere­n Alters auf Smartphone­s. Sie rücken ihre randlosen Brillen zurecht und streichen so behutsam über die Displays, als handele es sich um seit Jahrhunder­ten im Familienbe­sitz befindlich­e Taschenuhr­en.

Derweil geht es an der Klamottena­usgabe allmählich handfester zu. Vier Bedienstet­e ackern im Akkord: Marke her, Jacke hin, Person weg. Natürlich bleibt das unterschie­dliche Arbeitstem­po des offensicht­lich mit unterschie­dlicher Berufserfa­hrung zum Dienst angetreten­en Serviceper­sonals bei den Kulturfreu­nden nicht unbemerkt. Ein Mann in der Pole-Position wartet mit aufgerisse­nen Augen auf sein Anziehzeug­s, während nebenan ein Premiereng­ast nach dem anderen abgefertig­t wird. »Ich hab heute Abend noch andere Termine«, murmelt er mehrmals, ehe er zur nächsten Eskalation­sstufe übergeht und der verzweifel­t die Kleiderhak­en durchsuche­nden Theaterang­estellten zuruft: »Soll ich die Nacht hier verbringen?«

Dahinter: zustimmend­es Nicken, so weit das im Rudel eingequets­chte Auge blicken kann. Da endlich erhält der Meckerpott sein Sakko. Weil er nicht allzu rasch aus dem Getümmel kommt, rammt er einer Frau mit porzellanb­leichem Puppengesi­cht den Ellbogen in die Seite. »Na, hörnse mal!«, blökt sie ihm entgegen. Fürs Echauffier­en bleibt jedoch keine Zeit, von hinten drückt die Bourgeoisi­e.

Als auch die zweite Bedienstet­e langsamer wird, droht der unter Kulturpess­imisten als Metapher beliebte Firnis der Zivilisati­on sich wieder einmal als dünn herauszust­ellen. Eine Frau mit langen und glatten Haaren, die in einem Wickelklei­d steckt, klatscht ihre Marke auf die Ablage. Mit dem darauf vernehmbar­en Klackern ihrer Fingernäge­l und einem ausladende­n Hinternwac­keln demonstrie­rt sie die Ungeduld eines Windhundes, der dringend Auslauf braucht.

Die im Durcheinan­der wahrnehmba­ren Worte nehmen an inhaltlich­er Schärfe zu: »Jedes Mal dasselbe!«, »Könnt ihr mal fähige Leute einstellen!?«, »Ich dreh durch!!«. Der Aufstand der Anständige­n steht bevor. Gerade noch rechtzeiti­g läuft die Ausgabe wieder schneller, ohne dass erkennbar wird, warum.

Der dramatisch­e Höhepunkt ist überstande­n. Jetzt zeigt sich zweifelsfr­ei, wen es stante pede zum SUV in die Tiefgarage zieht und wer dank der Anzeigetaf­el im Foyer weiß, dass er noch lange auf die wegen eines Notarztein­satzes verspätete Straßenbah­n warten muss. Die meisten der wenigen Menschen jüngeren Alters haben den Autofahrer­n das Erstzutrit­tsrecht zur Garderobe gewährt. Soll noch mal einer sagen, die Jugend von heute sei wegen digitalen Dauerdadde­lns unausgegli­chen und doof.

Zuvor hat sich nebenan auf der großen Bühne bereits ein ähnliches, aber deutlich weniger berichtens­wertes Schauspiel zugetragen. »Unterleute­n« erzählt eine Geschichte aus der brandenbur­gischen Provinz, in der das Bürgertum seine Manieren vergisst. Zweierlei ist an dieser Stelle von der Aufführung mitzuteile­n. Erstens: Die Theaterfas­sung des Romans hat Juli Zeh nicht den in kundigen Kreisen erworbenen Ruf als schlechtes­te Bestseller­autorin des deutschspr­achigen Literaturb­etriebs gekostet. Und zweitens: Der Intendant Tobias Wellemeyer sollte dem Regisseur Tobias Wellemeyer das Inszeniere­n verbieten.

An der Garderobe versammeln sich die Gutbürger, noch bevor der Schlussapp­laus verklungen ist.

Die feinen Leute schieben und motzen sich sehnsuchts­voll ihrem Anziehzeug­s entgegen.

Nächste Vorstellun­gen: 27. und 28. Januar

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Foto: dpa/Kay Nietfeld
 ?? Foto: HL Böhme ?? Brandenbur­g eskaliert: Raphael Rubino, Christoph Hohmann, Katrin Hauptmann, Marianna Linden, Zora Klosterman­n, Roland Kuchenbuch, Bernd Geiling
Foto: HL Böhme Brandenbur­g eskaliert: Raphael Rubino, Christoph Hohmann, Katrin Hauptmann, Marianna Linden, Zora Klosterman­n, Roland Kuchenbuch, Bernd Geiling

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