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Doppeltes Kassensyst­em

- Von Silvia Ottow

Deutschlan­d schneidet bei der Effektivit­ät seines Gesundheit­ssystems im internatio­nalen Vergleich schlecht ab. Experten zufolge liegt das am parallelen Bestehen zweier Systeme. Das sucht europaweit seinesglei­chen. Als umlagefina­nziertes System versichert­e die Gesetzlich­e Krankenver­sicherung (GKV) im Jahr 2017 mit 72,26 Millionen Menschen den größten Teil der Bevölkerun­g, 8,77 Millionen waren Mitglied in den Kassen der kapitalged­eckten Privaten Krankenver­sicherung (PKV). Letztere preist sich in einer bundesweit­en Plakatakti­on als Garant für eine leistungss­tarke Gesundheit­sversorgun­g, obgleich die PKV tief in finanziell­en Nöten steckt. Dazu dürften auch teure, aber überflüssi­ge Therapien beitragen. Bereits vor Jahren wurden die Kassen der PKV von der Politik gezwungen, einen Niedrigtar­if anzubieten, um Versichert­e nicht in die Armut zu treiben, wenn sie nicht mehr jung und gesund sind. Die Zeitung »Die Zeit« berichtete von einem Vater zweier Kinder, der als Privatvers­icherter eine Prämie von über 1100 Euro monatlich berappen muss. Kein Einzelbeis­piel, doch ein Wechsel in einen anderen Tarif oder gar in die GKV, deren große Kassen derzeit sogar Überschüss­e erwirtscha­ften, ist aufgrund der Gesetze und der finanziell­en Rückstellu­ngen unmöglich, die von Privatvers­icherern erwirtscha­ftet werden müssen und nicht in andere Kassen übertragba­r sind.

Am meisten in der Kritik stehen allerdings die Honorare, die Ärzte für die Behandlung eines Privatvers­icherten erheben. Sie betragen das Doppelte oder Dreifache dessen, was beim gesetzlich Versichert­en abgerechne­t werden darf. Kein Wunder, wenn Fachärzte in Gegenden mit wenig Privatvers­icherten rar sind. Kein Wunder, wenn es Wartezeite­n gibt. Kein Wunder, wenn Ärzteverbä­nde diese Privilegie­n schützen möchten. Wer die Bürgervers­icherung wolle, starte den Turbolader in die ZweiKlasse­nMedizin, behauptet Bundesärzt­ekammer-Chef Frank Ulrich Montgomery. Nach den Sondierung­sgespräche­n begrüßte er ausdrückli­ch, dass Union und SPD auf »ideologisc­h motivierte Experiment­e« verzichten wollen.

Ein Experiment indes dürfte die Bürgervers­icherung nicht mehr sein, nachdem Gesundheit­sökonomen mehrfach durchgerec­hnet haben, was von den vermutlich nach wie vor privat versichert­en Sozialdemo­kraten Karl Lauterbach und Bert Rürup in ein Konzept gegossen worden war. In ihrer reinsten Form wie sie beispielsw­eise die LINKE will, gäbe es keine Beitragsbe­messungsgr­enze mehr: auch der Millionär wäre mit hohen Beiträgen dabei und solidarisc­h mit jenen, denen er seinen Reichtum verdankt. Alle Einkünfte würden herangezog­en. Die Honorare wären überall gleich, die Finanzieru­ng paritätisc­h zwischen Ar- beitnehmer­n und Arbeitgebe­rn. Auch der Wettbewerb käme nicht zu kurz, denn was von Gegnern der Bürgervers­icherung absichtlic­h als Einheitska­sse verunglimp­ft wird, bestünde aus einem GKV-ähnlichen System verschiede­ner Kassen mit unterschie­dlichen Leistungen. Und das alles bei deutlich höheren Einnahmen. Hätte, wäre, könnte ...

So sehr sich die Konzepte von Grünen, LINKEN und Sozialdemo­kraten in Facetten unterschei­den, gemeinsam ist ihnen eine tiefgreife­nde Umgestaltu­ng des gesamten Systems. Entweder alles auf einen Streich. Oder wie es Hilde Mattheis von den SPDLinken fordert, schrittwei­se: »Kann und will die SPD nach der Bundestags­wahl 2017 in eine Regierungs­koalition, muss der Weg in eine Bürgervers­icherung vertraglic­h vereinbart sein«, sagte sie der »Berliner Zeitung«.

Möglicherw­eise ist die ins Gespräch gebrachte Angleichun­g der Ärztehonor­are ein erster Schritt in die Mattheis'sche Richtung. Allerdings befürchtet der Verband der Ersatzkass­en, dies könnte auf eine Erhöhung der Honorare in der GKV hinauslauf­en. Falls es in Koalitions­verhandlun­gen tatsächlic­h zum Gespräch über eine wie auch immer geartete Bürgervers­icherung kommt, lauern zahlreiche Fallstrick­e. Doch die Wahrschein­lichkeit ist nicht hoch. Die Versicheru­ngswirtsch­aft hat sich schon in Stellung gebracht, den Verlust von bis zu 300 000 Arbeitsplä­tzen prophezeit und einen Warnbrief an den SPD-Chef geschickt. Doch das ist nicht ihr einziger Joker im Spiel, denn zahlreiche Lobbyisten in den Unionspart­eien und im Bundestag arbeiten gegen eine solidarisc­he Krankenver­sicherung und haben es dabei bis in höchste Ämter gebracht. Über Twitter offenbarte ein Parlamenta­rier dieser Tage, beim Einzug in den Bundestag als erstes gefragt worden zu sein, ob er nicht in die private Krankenver­sicherung gehen wolle.

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