Den Appetit zurückholen
Nebenwirkungen von Chemo und Bestrahlung machen die Ernährung bei Krebs zur Herausforderung
Schon Tumore allein können den Körper schwächen, hinzu kommen die Nebenwirkungen vieler Krebstherapien. Der Appetit bleibt meistens auf der Strecke. Bei einer Krebs-Diagnose verschlägt es den meisten ohnehin erst einmal den Appetit. Mit einiger Wahrscheinlichkeit beginnt die Behandlung danach recht schnell, aber oft kommt auch dann das Interesse am Essen wegen der Nebenwirkungen der Therapien nicht so schnell zurück.
Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit gehören zu den Begleiterscheinungen einer Chemotherapie, in manchen Fällen auch einer Bestrahlung. Letztendlich führen diese und andere Symptome zu einem Gewichtsverlust, der Heilungschancen weiter verschlechtern kann. Abnehmendes Körpergewicht kann jedoch schon infolge unbehandelter Tumoren eintreten. Dann wird von einer Tumorkachexie gesprochen. Dafür gibt es eindeutige Kriterien, darunter ein ungewollter Gewichtsverlust im letzten halben Jahr von mehr als fünf Prozent. Zur Tumorkachexie kommt es, weil bösartige Tumoren chronische Entzündungen hervorrufen, die den Stoffwechsel auf Trab bringen. Dann werden die Zytokine, Botenstoffe des Immunsystems, aktiv: Obwohl schon Muskeln abgebaut und Eiweiße zersetzt werden, bleiben Appetitsteigerung und Hungergefühl aus. Zusätzlich verlangsamen die Zytokine den Aufbau neuer Eiweiße.
Als ob das noch nicht reichen würde, können viele Betroffene nur schlecht essen. Auch wenn sie es könnten, wären Verwertung und Aufnahme der Nährstoffe im Verdauungstrakt gestört. Das kann sowohl von der Krebserkrankung als auch von den Therapien herrühren: Ein vorzeitiges Sättigungsgefühl, Appetitlosigkeit und Geschmacksveränderungen erschweren das Essen, hinzu kommen können Mundtrockenheit, Entzündungen der Mundschleimhaut und des Zahnfleischs, Pilzinfektionen sowie Darmprobleme wie Verstopfung oder Durchfall, Schluck- und Geruchsstörungen.
Bei einigen Tumorerkrankungen sind bis zu 80 Prozent der Patienten bereits mangelernährt, bevor überhaupt mit der Behandlung begonnen wurde. Auffällig ist dies bei Tumoren im Magen-Darm- und im Kopf-HalsBereich. Hier wies im vergangenen Jahr die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften darauf hin, dass eine individuelle ernährungsmedizinische Betreuung auf jeden Fall von Vorteil ist. Rechtzeitig begonnen, wirkt sie sich günstig auf Therapieerfolg und Lebensqualität der Patienten aus. Die Betroffenen leiden häufig unter Schluckstörungen und Verdauungsbeschwerden. Mit Be- ginn einer Strahlentherapie, vielleicht dazu noch einer Chemotherapie, steigt ihr Risiko für Mangelernährung und Untergewicht, verursacht durch Übelkeit und Erbrechen.
Auch Strahlenmediziner wie Rainer Fietkau vom Universitätsklinikum Erlangen empfehlen daher, dass jeder Tumorpatient in Bezug auf seine Ernährung betreut und beraten werden sollte. Ein persönlicher Ernährungsplan sei notwendig, der sowohl die Besonderheiten der Erkrankung als auch die eigenen Gewohnheiten berücksichtige. »Es gibt nicht die eine Krebs-Diät«, erklärt Fietkau. Gesundheitsförderlich ist hier meist das, was schon für Gesunde gilt: »Wer sich vollwertig ernährt, leicht verdauliche Nahrungsmittel bevorzugt und Zucker sowie scharfe Gewürze vermeidet, ist schon auf dem richtigen Weg.«
Wenn das alles nicht hilft, kann mit Medikamenten eingegriffen werden, angefangen von appetitsteigernden Mitteln bis zu verschiedenen Hemmstoffen der Zytokine. Spezielle Beschwerden infolge der Therapien sollten immer behandelt werden, darunter Zahnfleischentzündungen, Durchfall und Übelkeit. In bestimmten schweren Fällen muss auf flüssige Nahrung oder passierte Speisen zurückgegriffen werden. Trinkfertige hochkalorische medizinische Fertignahrung enthält alle wichtigen Nährstoffe und wird in verschiedenen Geschmacksrichtungen angeboten.
Es wäre jedoch schade, wenn zuvor nicht zumindest versucht würde, mit der frischen Zubereitung bekömmlicher Speisen wieder den Appetit zurückzugewinnen. Hinzu kommt, dass viele Krebsdiagnostizierte von sich aus ihre Ernährung umstellen wollen. Dabei gibt es verschiedene Hilfsangebote. Ein besonderes Selbsthilfeprojekt in dieser Sache startete Ende 2016 in Hessen. Dort bietet die Krebsgesellschaft des Bundeslandes Kochworkshops an, gefördert von der Techniker Krankenkasse. Fernsehkoch Mirko Reehs versucht dabei, Patienten den Genuss am Essen zurückzubringen. Auch Angehörige können teilnehmen und lernen, auf veränderte Bedürfnisse der Erkrankten einzugehen.
Besonders wichtig ist es, geeignete Gewürze zu entdecken – zum Beispiel, um einen metallischen Geschmack im Mund zu überlagern. Geeignet erscheinen dafür Zimt oder Vanille. Für manche Betroffene machen weiche Speisen wie Suppen und Soßen das Essen einfacher. Nach der Erfahrung von Ernährungstherapeuten wird Fisch oft besser vertragen als Fleisch. Betroffene, die zum Beispiel Teile ihres Magens verloren haben, müssen lernen, besonders gut zu kauen, und sich angewöhnen, häufiger als früher, fast kontinuierlich, kleine Portionen zu essen. Die Workshops, in denen die Teilnehmer Rezepte ausprobieren und sich austauschen können, bringen ihnen häufig auch ein Stück Lebensfreude zurück. In diesem Jahr sollen in Hessen weitere Kurzkurse von Profi-Köchen gemeinsam mit Ernährungstherapeuten hinzukommen.
Wer solche Angebote in seiner Umgebung nicht findet, kann auf Onlineportale wie das des Krebsinformationsdienstes zurückgreifen oder Literatur zurate ziehen. Aus dem rie- sigen Angebot spezialisierter Kochbücher sei eines herausgegriffen, das sich insbesondere an Patienten mit Prostatakrebs und an Patientinnen mit Brustkrebs wendet – vor allem wohl, weil diese Tumoren zu den häufigsten gehören und sich beide deutlich auf den Hormonhaushalt auswirken.
Für jedes Rezept von der PolentaLauchsuppe bis zum Apfelsorbet ist vermerkt, bei welchen Beschwerden es besonders geeignet ist – etwa bei Appetitlosigkeit, Blähungen oder Entzündungen der Mundschleimhaut. Eine Tabelle hilft, für insgesamt acht Symptome passende Rezepte zu finden. Eingangs enthält das Buch Warnhinweise, etwa zu negativen Effekten von Nahrungsergänzungsmitteln während der Tumortherapien oder zu Wechselwirkungen von Lebensmitteln mit bestimmten Medikamenten. Naschkatzen erhalten praktische Tipps, wie sie ungesunde Zuckerarten umgehen können. Tierische Produkte sind erlaubt, aber nur in geringen Mengen empfohlen. Insgesamt handelt es sich um eine eher leichte, gemüsereiche Küche, mit vielen fleischlosen Hauptgerichten und mehr Fisch- als Fleischrezepten.
Literaturtipp: Claudia Petru: Kochen gegen Krebs. Ernährung bei Brust- oder Prostatakrebs. Leopold Stocker Verlag Graz 2017, 192 Seiten, 19,90 Euro.