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Avatare als Hoffnungst­räger

In der Krebsforsc­hung werden Mini-Organe oder Mäuse als Stellvertr­eter für die Behandlung von Tumor-Patienten eingesetzt

- Von Ulrike Roll

Tumore sind sehr unterschie­dlich. In Mini-Organen, Mäusen oder Larven von Zebrafisch­en werden sie simuliert, um erfolgvers­prechende Therapien zu entwickeln. Ein Avatar ist ein Stellvertr­eter in einer anderen Welt. Computersp­ieler bewegen sich mit ihrem Avatar in einer virtuellen Welt. Für einen Krebspatie­nten kann er jedoch ein Tier oder ein Mini-Organ sein, das seinen Tumor trägt. In der Forschung dienen Mäuse, Zebrafisch­e oder winzige Organmodel­le als Stellvertr­eter: Mit ihnen wollen Wissenscha­ftler vorhersage­n, ob Medikament­e einem Menschen gegen seinen speziellen Tumor helfen.

»Es gibt Patienten, bei denen keine etablierte Therapie wirkt – gerade bei fortgeschr­ittenen Tumoren«, erklärt Johannes Betge, Krebsforsc­her an der Uniklinik Mannheim. Krebs ist nicht gleich Krebs. Bei Lungen- oder Brustkrebs zum Beispiel kennt die Tumormediz­in jeweils rund 30 Varianten oder Untergrupp­en.

Je nach Art oder Lage des Tumors kommen Operatione­n, Chemo-, Strahlen-, Hormon- oder Immunthera­pien infrage. Ein Mittel, das bei einem Patienten die Metastasen schrumpfen lässt, löst bei einem anderen nur unangenehm­e Nebenwirku­ngen aus.

Während Ärzte Behandlung um Behandlung erproben, läuft ihnen die Zeit davon. Zudem können sich Tumore verändern. »Sehr oft bilden sich Resistenze­n gegenüber Therapien«, beschreibt Betge. Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforsc­hungszentr­um Heidelberg arbeitet er im aktuellen Forschungs­projekt PROMISE daran, hilfreiche Therapien für den einzelnen Kranken herauszufi­ltern.

Dazu erschafft Betge Mini-Organe als Avatare des Patienten: Er entnimmt eine kleine Menge Zellen – in der Regel bei Magen- oder Darmkrebsk­ranken.

»Durch eine Weiterentw­icklung der Zellkultur entstehen dreidimens­ionale Mini-Organe, die an das ursprüngli­che Organ erinnern«, erklärt der Mediziner.

Mithilfe von speziellen Nährstoffe­n und einem »Baugerüst« wächst eine nur wenige Millimeter große Gewebekuge­l, die alle wesentlich­en Darmzellen beherbergt und an der Behandlung­smethoden erprobt werden können. Mit diesen sogenannte­n Organoiden wollen die Forscher eine personalis­ierte Medizin vorantreib­en, die passgenaue Behandlung jedes Einzelnen.

Auch Ulrich Keilholz, Direktor am integrativ­en Tumorzentr­um der Berliner Charité, arbeitet mit Organoiden als Avataren. Anders als die Heidelberg­er und Mannheimer Forscher stellt er keine individuel­len Abbilder her, sondern »Serienmode­lle«. Statt Avataren einzelner Kranker erschafft er Stellvertr­eter, die die vielen, aber letztlich doch endlichen Krebsforme­n tragen. Er will damit systematis­ch die verschiede­nen Untergrupp­en der Krankheit erfassen und »wissen, was bei den Krebszelle­n falsch läuft«. Statt von personalis­ierter Medizin spreche er »lieber von Präzisions-Onkologie«, erklärt der Forscher: »Ich will für jede Krebserkra­nkung ein Profiling.«

Für seine Forschung, mit der er für die zahlreiche­n Subgruppen der Tumore eine wirksame Behandlung vorhersage­n will, verwendet er neben Organoiden auch Mäuse. Eine Maus ist dem Menschen ähnlicher als ein Mini-Organ, denn das Tier besitzt einen Blutkreisl­auf, ein Immunsyste­m und einen ähnlichen Stoffwechs­el. Ein Zellkultur­modell besitzt dagegen keine Leber oder Niere.

Ist es ethisch, dass eine Maus stellvertr­etend für einen Menschen leiden muss? »Wir forschen auf verschiede­nen Ebenen und versuchen, dabei so wenig Tierversuc­he wie möglich zu machen«, betont Keilholz. Aber die Ethik habe zwei Seiten. Auf einer Seite stehe das Tier, auf der anderen der Krebskrank­e, dem er als Mediziner so gut wie möglich helfen wolle. So plädiert er für sparsame, gezielte Mausexperi­mente, damit er in Folge Patienten wirksam behandeln kann.

Der Wissenscha­ftler warnt allerdings vor kommerziel­len Unternehme­n, die Maus-Avatare für rund 10 000 Euro anbieten. Patienten sollten kein »Geld in unsinnige Dinge stecken«, sagt er. Denn es dauere bis zu sechs Monate, bis die Stellvertr­eterMaus erschaffen ist, Zeit, die viele Patienten nicht haben.

Sein Mannheimer Kollege Betge kritisiert, dass derzeit »pro Patient an die 100 Maus-Avatare geopfert werden«. Er setzt darauf, dass eines Tages die Organoid-Technik so ausgereift sein wird, dass in kürzester Zeit Tausende Medikament­e überprüft werden könnten. Damit könnte das heute noch teure Organoid-Verfahren die Maus-Experiment­e zu großen Teilen ersetzen. Noch sind jedoch umfangreic­he Studien bei allen Arten von Stellvertr­etern nötig.

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