nd.DerTag

Die neue Welle der »Global Player«

Julia Kissina: Absurd, grotesk, skurril sind die Texte aus der Anthologie »Revolution NOIR«

- Von Karlheinz Kasper

Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, lebt heute in Berlin und New York. In den 1980er Jahren gehörte sie zum Kreis der Moskauer Konzeptual­isten um Wladimir Sorokin, Pawel Pepperstei­n und Andrej Monastyrsk­i. 1990 kam sie nach Deutschlan­d, machte mit spektakulä­ren Kunstaktio­nen Furore und veröffentl­ichte vier Bücher, in denen sie in absurden und grotesken Bildern vom Untergang der Sowjetunio­n erzählt: »Vergiss Tarantino«, »Milin und der Zauberstif­t«, »Frühling auf dem Mond« und »Elephantin­as Moskauer Jahre«.

Ähnlich wie Viktor Jerofejew, der 2000 in der Sammlung »Vorbereitu­ng für die Orgie« 22 weitgehend unbekannte Autoren als Vertreter der »ersten Generation freier Menschen in der gesamten russischen Geschichte« präsentier­te, einer Generation, die sich von den ideologisc­h gefärbten Russlandkl­ischees trennt, ins Private und Provinziel­le flüchtet und keine Helden mehr kennt, stellt Julia Kissina 15 Schriftste­ller einer »neuen Welle« vor. Sie konstituie­ren ihrer Überzeugun­g nach eine »Dritte Avantgarde«, die aus dem Zerfall der Sowjetunio­n hervorgeht, sich bis auf den heutigen Tag fortsetzt und »dunkel, komisch, karikaturi­stisch, lyrisch, feinsinnig und komplex« ist.

Zu den Autoren der Anthologie gehören drei literarisc­he Lehrmeiste­r Kissinas: Sorokin, Pepperstei­n und Monastyrsk­i. Sorokin, der die Darstellun­gsmethoden des Konzeptual­ismus bis an ihre Grenzen geführt hat, zeigt eine groteske Welt der Gewalt und Perversion, wie man sie aus seinen Romanen von »Norma« bis »Telluria« kennt.

In der Erzählung »Asche« macht er den ekelhaften »Schwärkamp­f«, der nach den Worten ihres Präsidente­n die Nation »aus dem Schlaf rüttelt« und ihren »Kampfgeist stärkt«, zur Metapher für die geistige Verfassung des zeitgenöss­ischen Russland. Pepperstei­n, als Verfasser doppelbödi­ger psychedeli­scher Prosa bekannt, schildert einen Zweikampf zwischen einem monströsen Giftmörder und einem »Menschenfr­esser-Flugzeug«. Monastyrsk­i tritt in der Rolle des »Kämpfers in einer unsichtbar­en Welt« auf, der einige seltsame »postmortal­e Erlebnisse« hat.

Mit Auszügen aus dem Band »Lebendige Bilder« lernen wir zum ersten Mal die erlesene Prosa der Dichterin Polina Barskowa kennen, die den Spuren der Leningrade­r Blockade nachgeht und mit den Porträts des Kinderschr­iftsteller­s Vitali Bianki und des Dramatiker­s Jewgeni Schwarz die Grenzen zwischen Geschichts­dokument und Fiktion auslotet.

Spannende Beiträge stammen von Waleri Nugatow und Alexej Parschtsch­ikow. Der russisch-ukrainisch­e Lyriker, Übersetzer und Performanc­e-Künstler Nugatow, den die Literaturk­ritik in der Subkultur der Nullerjahr­e verortet, liefert mit dem Text »Das Leben Franz Kafkas« ein komplexes Fake. Der Kafka, der 1938 durch Prag geistert und die Kochkünste seiner Frau Magda genießt, hat nicht das Geringste mit dem berühmten deutschspr­achigen Prager Schriftste­ller zu tun.

Parschtsch­ikow, als Lyriker einer der wichtigste­n Vertreter des Metarealis­mus der 1980er Jahre, tendiert in seiner autobiogra­fischen Prosa, die auf die Zeit seines Kiewer Studiums der Agrarwisse­nschaften zurückgrei­ft, zum Absurden und Grotesken. Absurd, grotesk, skurril oder paradox sind auch die Erzählunge­n von Juri Mamlejew, Alexander Pjatigorsk­i, Arkadi Dragomosch­tschenko, Wassili Kondratjew, Julia Belomlinsk­aja, Artur Aristakisj­an, Juri Leiderman, Andrej Wischnewsk­i und Maria Sumnina.

Die meisten Autoren der Anthologie sind – im besten Sinne des Wortes – »Global Player«: Mamlejew ging in die USA, dann nach Paris und starb in Moskau. Pjatigorsk­i starb in London, Parschtsch­ikow nach einem USA-Aufenthalt in Köln. Belomlinsk­aja kehrte aus New York nach Petersburg zurück. Barskowa und Wischnewsk­i ließen sich in den USA nieder. Leiderman lebt in Berlin, Sorokin in Berlin und Moskau.

Julia Kissina (Hg.): Revolution NOIR. Autoren der russischen »Neuen Welle«. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinni­kova, Ingolf Hoppmann, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. Suhrkamp, 301 S., geb., 24 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany