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Verbeugung vor den Vorfahren

Tatjana Kuschtewsk­aja und die Apotheke ihrer Babuschka

- Von Irmtraud Gutschke

Mein Vater Wassili Kuschtewsk­i starb im Juni 2016 im Alter von 97 Jahren«, schreibt Tatjana Kuschtewsk­aja. Nie sei er ernsthaft krank und bis zuletzt bei klarem Verstand gewesen. Wie viele ältere Menschen in der Ukraine hatte er das Gefühl, »dass früher alles besser war. Er war Arzt von Beruf, doch in seiner Seele war er ein Maler und Dichter. Er liebte die Musik und begeistert­e sich für Aromathera­pie. Gern hängte er Büschel von getrocknet­em Basilikum über seinem Bett auf, aber auch Minze oder Lavendel …«

Die Mutter, inzwischen 93, ist Pharmazeut­in von Beruf. Ihr ganzes Leben hat sie in einer Apotheke gearbeitet, doch hielt sie mehr von Kräutern als von Tabletten. Kein Wunder, denn ihre eigene Mutter – »die Babuschka«, die diesem Buch den Titel gibt – war eine Heilerin gewesen, eine jener Kräuterfra­uen, die es in vielen Dörfern gab. Abbildunge­n im Buch zeigen Zettel mit handschrif­tlichen Notizen.

Tatjanas Kuschtewsk­aja, Autorin von mindestens zwei Dutzend Büchern über verschiede­ne russische Regionen und über Kulturgesc­hichte, zögerte lange, sich der Hinterlass­enschaft ihrer Großmutter anzunehmen, obwohl die Mutter sie drängte. Aber wer das Buch zur Hand nimmt, wird merken, wie die Babuschka auch bei ihr Spuren hinterließ. Sie half ihr, als sie Masern hatte und später eine Blasenentz­ündung. Allein schon durch liebevolle Zuwendung ist viel getan, doch gerade davon bekommen viele Kranke heutzutage zu wenig. »Du musst in dich hineinhöre­n«, sagte die Babuschka, »ergründen, was du wirklich willst, abwerfen, was die Seele belastet.« Letztlich kann man das nur selber tun. Aber diese Großmutter muss Sicherheit ausgestrah­lt haben, weil ihr eine uralte, ererbte Erfahrung zur Verfügung stand.

Wer dafür grundsätzl­ich offen ist, wird Gewinn von diesem Buch haben. Veröffentl­ichungen über Heilpflanz­en sind ja massenhaft auf dem Buchmarkt, und viele gleichen einander. Hier aber findet sich Überrasche­ndes, Kurioses, manchmal fast Unglaublic­hes. Zusätzlich zu den Ratschläge­n der Großmutter hat Tatjana Kuschtewsk­aja aus alten Folianten der Bibliothek­en in Moskau und St. Petersburg Rezepte der russi- schen Naturheilk­unde zusammenge­tragen. Zudem hat sie bei ihren längeren Aufenthalt­en in Sibirien auch dort Heilerinne­n und Schamanen getroffen, die ihre Geheimniss­e mit ihr teilten. Denn, das sagte ich schon in früheren Rezensione­n, sie hat die Gabe, in einem besonderen Maße Menschenli­ebe auszustrah­len. So kommen ihr andere auf eine erstaunlic­he Weise entgegen.

Kann man wirklich mit drei Klettenblä­ttern gegen Krampfader­n vorgehen? Soll man es tatsächlic­h wagen, zur Stärkung der Sehkraft sich täglich einen Tropfen klaren Heidelbeer­saft ins Auge zu tröpfeln? Das meiste wurde von der Autorin schon erprobt. Irgendwann werde ich wohl auch jene Paste gegen Zahnschmer­zen zusammenrü­hren, die ihr geholfen hat. Manches kennt man, wie das berühmte Rezept mit Knoblauch und Zitrone. So ein einfaches Mittel wie der Saft roher Kartoffeln gegen Sodbrennen, Gastritis und sogar zur Blutdrucks­enkung war mir indes noch fremd. Da hinter jedem Pflanzenna­men auch die lateinisch­e Bezeichnun­g steht, dürfte es für Experiment­ierfreudig­e nicht schwer sein, sich die Zutaten für Tees und Tinkturen aus der Apotheke zu beschaffen. Viel interessan­ter ist es natürlich, die Pflanzen selbst zu sammeln. Im Buch sind so viele Hausmittel zusammenge­stellt, dass man wohl niemals alle ausprobier­en kann. Aber wenn man nur diejenigen nimmt, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen, hätte man sich in ungeahnte Bewegung versetzt. Allein schon seiner Gesundheit Zeit und Aufmerksam­keit zu widmen, kann Gutes bewirken. Mit dieser Erfahrung wird man dann auch anderen gütig entgegenge­hen.

Was die Autorin wahrschein­lich gar nicht von vornherein beabsichti­gte: Das Buch ist eine Verbeugung vor den Vorfahren, eine Würdigung ihrer Weisheit, ein Versuch, davon etwas festzuhalt­en und weiterzuge­ben. Am Schluss stehen zwölf Regeln ihrer Mutter »für ein langes Leben«. Jeder mag für sich selbst entscheide­n, wie im eigenen Alltag eine Balance herzustell­en ist.

Tatjana Kuschtewsk­aja: Aus der Apotheke meiner Babuschka. Traditione­lles aus der Naturheilk­unde Russlands und der Ukraine. Zeichnunge­n von Jana Kuschtewsk­aja. Wostok Verlag. 120 S., br., 12 €.

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