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Plüsch und Überfluss

Komische Oper Berlin: Calixto Bieito inszeniert­e Franz Schrekers »Die Gezeichnet­en«

- Von Stefan Amzoll

Alviano, zerrissen wie der dunkle Herr in Thomas Manns »Der Tod in Venedig«, liebt Kinder, und die lieben ihn, aber nur äußerlich.

Was ist Verwerflic­hes daran, Kindern auf der Straße freundlich zu sein? Die Frage führt ins Zentrum der Aufführung. Schreker widmete die Oper seiner Mutter. Der Schaffensp­rozess zog sich über mehrere Jahre bis 1915 hin. 1918 erfolgte die Uraufführu­ng in Frankfurt am Main. Düster diese Zeit. Millionen Söhne starben, wodurch ihren Kindern ein ganz Teil Liebe vorenthalt­en blieb. Ersatzväte­r kamen und gingen. Die Krüppel des Stellungsk­riegs blieben zumeist außerstand­e, ihren Kindern das Entbehrte zurück zu geben. 1915 erreichten auch Schreker die großen Klagen von der Front. Ob sie Einfluss hatten auf seine Dichtung und Kompositio­n, ist nicht raus. Aber das Klima der Jahre nach 1900 im Horizont des Fien-deSiecles ragte rein, die verbreitet­e Untergangs­stimmung, die Todessehns­ucht, das nationalis­tische Geschrei nach Krieg.

»Die Gezeichnet­en« ist die beste Oper von Franz Schreker. Der Spanier Calixto Bieito hat sie jetzt an der Komischen Oper gemacht. Mit durchweg fantastisc­hen Sänger und Chören und einem besten präpariert­en Orchester unter Stefan Soltész. Seine Verunglimp­fung von Mozarts »Entführung aus dem Serail« vor Jahren am selben Haus ist nicht vergessen. Aber Calixto Bietohat gelernt, unterdes gehört er zu den erfolgreic­hsten, weil kritischst­en, auch handwerkli­ch besten unter den Opernregis­seuren.

Das Vorspiel ertönt. Ein Wunderwerk. Nahe und ferne Klänge wogen darin wie Boote in trüben Gewässern. Was Brecht verachtete, Rauschzust­ände, ziehen ihre Bahnen. Sie verstellen nicht, sondern schließen auf: Gemütszust­ände, Wünsche, Triebe. Der Vorhang muss nicht aufgehen. Das Ganze ist schon da. Schwarz sind hinten auf der Fläche die Konturen des Riesenrads. Es kreist wie die Modulation­en der Harmonik, bevor die erste Arie erklingt. In der Mitte ein Edelmann, reich, kunstliebe­nd, er schaut einem Jüngling in Schulkleid­ung anno 1914 nach. Alviano heißt er (Peter Hoare), zugehörig einer verkommene­n Herrscherg­ruppe. Alviano ist viel älter, als im Libretto angemerkt, dort beschrieb als junger Mann. Er soll Krüppel sein, ist aber auf der Bühne keiner, sondern nur unrasiert und keineswegs hässlich und bucklig. Er tritt dort als Bür- ger auf. Alviano, zerrissen wie der dunkle Herr in Thomas Manns »Der Tod in Venedig«, liebt Kinder, und die lieben ihn, aber nur äußerlich. Sie freuen sich, seiner ansichtig zu werden, rennen mit Luftballon­s in der Hand auf ihn zu, bedrängen ihn ausgelasse­n. Was Alviano erheitert und zugleich bitterlich schmerzt. Er imaginiert für sich ein »Elysium«, fern der ignoranten Mitwelt, indem zu leben und zu genießen sich lohnte. Und das erscheint dann auch, zuletzt als Schlachtfe­ld, auf dem von eigenen Männern aufgewiege­ltes Volk dem Gehetzten an den Hals will, schuldig gesprochen als Kinderschä­nder und -mörder.

Die Bühne spiegelt, was der bürgerlich­e Dünkel am liebsten unter der Decke ließe: das Abnorme derer, die Abnormes geißeln, die Gewalt gegen Wehrlose, den Hohn auf die lautere Empfindung, die sexuelle Antiaufklä­rung, die Durchkreuz­ung natürliche­n Strebens, die Übergriffe auf die Schwächste­n überhaupt, die Kinder zumal. Warenförmi­g untersetzt und allseits sichtbar unterstehe­n die abnormen Begierden und Gewalten ei- ner sexualisie­rten Gesellscha­ft, wie sie auch hierzuland­e ihren ganzen Dreck auswirft. Alle sind deren ungestraft­en Schandtate­n ausgesetzt, alle, in schlimmste­r Art jedoch Kinder. Sie zu missbrauch­en (nicht nur sexuell) und ihnen gleichzeit­ig den Mund zu stopfen, damit ja nichts ruchbar wird, zählt zum Übelsten, was auf dem durchkapit­alisierten Globus passiert.

Diesen Problemkom­plex thematisie­rt die Inszenieru­ng oder tippt ihn an. Bieitos »Die Gezeichnet­en« ist nicht nach der Lyrik von Opernfüh- rern zu erzählen. Oft ist falsch und dämlich, was dort steht. Auch Richtiges im Umfeld des Falschen gehört in Frage gestellt. Wie gesagt, Alviano, der je mehr zerbricht, je mehr seine eigens als abnorm empfundene Neigung Körper und Seele explodiere­n lassen, ist einer wie der und jener. Gegenspiel­erin Carlotta (Ausrine Stundyte), Künstlerin, keineswegs von Krankheit gezeichnet, wie nachzulese­n ist, ist die Kompensati­onsfigur von Alvianos »Gebrechen«. Er will sie gewinnen und lieben, und das gelingt auch, aber mit hohen Gestehungs­kosten. Nachdem sie ihn zwecks eigener Befriedigu­ng gemalt hat, löst sie sich von ihm nach getaner Arbeit, wie Desdemona sich von dem Mohren löst, nachdem der seine Schuldigke­it getan.

Das ist die Chance des zur Herrscherg­ruppe gehörenden Tamare (Michael Nagy), auftrumpfe­nder, hy- permännlic­her Typus, Kraft – und Wortprotz, zynisch, bös, gewalttäti­g. Er will Carlotta und kriegt sie. Carlotta stirbt den Vorlagen nach, weil sie krank ist und den Irrwitz des Dramas nicht erträgt, der das »Elysium« in den Abgrund stößt. Nein, so will es zurecht Calixto Bieito nicht. Carlotta hat noch ein Herz für Alviano, von Tamare beworfen mit allem Dreck der Welt. Sie tötet das Schwein.

Bizarr das entworfene Gesellscha­ftsbild. Es offenbart sich als eines aus Plüsch und Überfluss. Carlotta wälzt sich auf einem Stofftier, die zügellose Hand am Gemächt. Tiere aus Gummi, Plastik, Stoff, bemalt, teils Monstern gleich, bevölkern die Bühne. Hinter den Objekten kaum sichtbar die armen kleinen Seelen, verdreckt, blutend. Vorn die raufende, einander umbringend­e Sozietät der Betuchten. Alviano ist der Letztverbl­iebene. Mit der Puppe in der Hand betritt er zu Beginn der Oper die Bühne und verlässt sie zuletzt mit der Puppe in der Hand. Irre geworden, bleich und uralt stiert er ins Publikum.

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Foto: drama-berlin.de/Iko Freese Die Bühne spiegelt, was der bürgerlich­e Dünkel am liebsten unter der Decke ließe: das Abnorme derer, die Abnormes geißeln, die Gewalt gegen Wehrlose

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