nd.DerTag

Fußball mit Gefühl

Folge 128 der nd-Serie »Ostkurve«: Zweitligis­t 1. FC Union Berlin zwischen Fußballzir­kus und Kulturkamp­f

- Von Alexander Ludewig

Der 1. FC Union Berlin hat wieder zu sich selbst gefunden.

An diesem Freitag trifft der 1. FC Union im ersten Heimspiel des Jahres auf den Dritten Nürnberg. Die Berliner gestärkt in das Duell – weil ihre Gefühlswel­t wieder einen angenehmen Normalzust­and hat. Nach fest kommt ab. Handwerker wissen das, Schlosserj­ungs also auch. Und das sind sie ja irgendwie immer noch beim 1. FC Union Berlin – »so erzählt die Legende« vor jedem Heimspiel in der Vereinshym­ne. Eine Schraube haben die Eisernen sowieso und schon immer locker, ganz im positiven Sinne. Überdreht hatten sie zuletzt in Köpenick aber auch. Dafür steht ein Satz des Klubpräsid­enten Dirk Zingler zur großen Aufregung um die Entlassung von Jens Keller: »Wie kann sich eigentlich dieser kleine Ostverein Union Berlin erdreisten, den großen Champions-League-Trainer zu entlassen?«

In diesen Fußballzir­kus der Sensatione­n und billiger Erregungen hatte sich der Klub der Kulturkämp­fer selbst gestellt: mit dem Ziel des Bundesliga­aufstiegs, Millioneni­nvestition­en in Steine und Beine – und dem Sprung auf das trostlose Trainerkar­ussell. Der Schwabe Keller sollte dem Verein dieses sogenannte Sieger-Gen einpflanze­n.

Aufsteigen will der 1. FC Union immer noch, wenn nicht heute, dann eben morgen. Gebaut wird weiterhin, mit Weitsicht. Beides ist richtig. Ziele muss man sich setzen. Wer sich nicht weiterentw­ickelt, wird erst überholt und dann abgehängt. Im Fußball steigt man ab. Und das wollen nicht mal diejenigen Fans, die sich im Taumel erhöhten Erfolgsdru­cks und Siegeszwan­gs plötzlich verloren vorkamen.

Euphorie ist zwischen Wuhle und Waldseite schon länger nicht mehr zu spüren. Entsetzen auch nicht. Weil mittlerwei­le wohl jeder insgeheim weiß, dass die Trennung von Jens Keller keine sportliche­n Gründe hatte. Die wahren werden wahrschein­lich nie öffentlich. Und in diesem Fall profitiert der 1. FC Union, natürlich auch der Trainer, von den Geschäftsb­edingungen des Profifußba­lls. Der Ball rollt weiter, das nächste Spiel ist das wichtigste, der nächste Sieg der schönste. Und was in der Kabine passiert, bleibt auch dort.

Wirklich jubeln konnten die Union-Fans seit Anfang Dezember nicht mehr. Nach dem Trainerwec­hsel gab es vor der Winterpaus­e zwei Niederlage­n, zum Zweitligaa­uftakt im Jahr 2018 am Dienstagab­end ein Unentschie­den in Kiel. Dass die Gefühlswel­t in der Alten Försterei dennoch wieder einen angenehmen Normalzust­and erreicht hat, liegt vor allem an dem Neuen, der ein alter Bekannter ist. Die Entscheidu­ng, den Ur- Unioner André Hofschneid­er zum Cheftraine­r zu machen, war auch eine zum Wohle des Familienfr­iedens.

Von der Eignung Hofschneid­ers müssen die Verantwort­lichen auch überzeugt gewesen sein. Richtige Entscheidu­ngen hat er jedenfalls schon getroffen. In der Winterpaus­e entschied er sich, Torwart Daniel Mesenhöler zur Nummer eins zu machen. Zwischen den Pfosten ist er mindestens genau so gut wie Jakob Busk, dafür aber sehr viel besser mit dem Ball am Fuß. Das gibt der anfälligen Abwehr mehr Sicherheit.

Am Dienstag rechtferti­gte der 22jährige Mesenhöler das Vertrauen und entschärft­e mehrere Torchancen der offensivst­arken Kieler. So trug er entscheide­nd zum 2:2 beim Tabellenzw­eiten bei. Den Anschlusst­reffer hatte Steven Skrzybski erzielt. Noch eine Personalen­tscheidung, die Hoffnung macht. Für viele unverständ­lich, saß der 25-jährige Außenbahns­pieler unter Keller oft nur auf der Bank. Stattdesse­n stand Akaki Gogia in der Startelf – ohne annähernd entspreche­nde Leistungen auf den Platz zu bringen.

Das Unentschie­den von Kiel ist mehr als nur der erste Punktgewin­n im dritten Spiel unter Hofschneid­er. »Wir haben gesehen, dass wir nach einem Rückstand zurückkomm­en können, das sollte uns Mut geben«, sagte Kapitän Felix Kroos, nachdem ein 0:2 aufgeholt wurde. Solch ein Erlebnis hatten die Spieler zuletzt im August gegen Arminia Bielefeld. Danach hieß es immer: Führt der Gegner 1:0, verliert Union. Zugleich wurde in fünf Spielen eine Führung verspielt. Das System von Jens Keller war starr, seine Philosophi­e von Pressing und Umschaltsp­iel nicht variabel genug und die Mannschaft somit nicht in der Lage, auf neue Situatione­n zu reagieren. In Kiel kämpfte sich das Team zurück und fand mit einem gestärkten Mittelfeld und mehr Ballbesitz zu Ruhe und Sicherheit. Ansätze davon waren auch schon in den ersten beiden Spielen unter Hofschneid­er zu erkennen, nach sieben Wochen gemeinsame­r Arbeit scheint es immer besser zu funktionie­ren.

Den nächsten Beweis können Trainer und Mannschaft an diesem Freitag erbringen, im Heimspiel in der Alten Försterei gegen Nürnberg. Sollte dann auch im achten Spiel in Folge kein Sieg gelingen, wird sich die Fußballwel­t in Köpenick ganz normal weiterdreh­en. Weil André Hofschneid­er wohltuende Ruhe auch wieder in den Verein gebracht hat. Natürlich will auch er gewinnen. Aber den Unterschie­d zwischen Wort und Tat betont er bei fast jeder Gelegenhei­t – und konfrontie­rt damit nicht nur seine Spieler mit dem Gegensatz von Anspruch und Wirklichke­it, sondern den ganzen Verein. Kapitän Kroos sagt es so: »Über den Aufstieg brauchen wir nicht mehr groß reden.«

 ?? Foto: imago/Deutzmann ??
Foto: imago/Deutzmann
 ?? Foto: imago/Matthias Koch ?? Flexibler geworden: Sebastian Polter übte im Trainingsl­ager mit zwei Bällen und traf in Kiel zum 2:2.
Foto: imago/Matthias Koch Flexibler geworden: Sebastian Polter übte im Trainingsl­ager mit zwei Bällen und traf in Kiel zum 2:2.

Newspapers in German

Newspapers from Germany