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Wunden, die nicht heilen

Tomasz Miedzinski überlebte Ghettos und Zwangsarbe­itslager und kämpfte bei den Partisanen

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Eine Griechin und ein Pole berichten über die Shoah und den Krieg.

Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz-Birkenau, wird in Deutschlan­d der Opfer des Nationalso­zialismus gedacht. Die UNO erklärte 2005 das Datum zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

Sie waren Zeuge eines deutschen Massakers an Juden. Und verloren selbst viele Familienan­gehörige. Am 4. Dezember 1941 führten die Deutschen eine der größten Vernichtun­gsaktionen in unserer Stadt Horodenka durch. Wir sahen durch das Fenster, wie sie Menschen, offensicht­lich Juden, auf einem Platz zusammentr­ieben. Ukrainisch­e Polizisten halfen ihnen dabei.

Meine Mutter Chaja-Klara sagte zu meinem Vater: »Hör zu, Du und die beiden älteren Jungs werden vielleicht noch zur Arbeit genommen. Versteckt Euch auf dem Dachboden, ich bleibe hier mit den Kleinen.« Sie meinte Szmulek, der elf Jahre alt war, und Mordechaj, sieben. Wir hörten auf Mutter. So überlebten wir, während meine Mutter und die beiden Kleinen geholt und in die große Synagoge getrieben wurden. Dort wurden die Menschen, Rabbiner, Lehrer, Ärzte, Handwerker, Arbeiter und viele kleine Kinder, schikanier­t und gefoltert. Am nächsten Morgen wurden sie mit Lkws in ein Dorf zwölf Kilometer entfernt transporti­ert. Dort waren bereits Gruben ausgehoben. Alle wurden erschossen.

Das erfuhren Sie aber erst später? Ja. Alles erfuhren wir. Während der Erschießun­gen mussten sich die Men- schen bei einem Schuppen bis auf die Unterwäsch­e ausziehen und dann bei minus 20 Grad rund 30 Meter laufen – bis zu den Gruben. Davor standen die Deutschen, schossen ihnen ins Genick und schubsten sie in die Gruben. Als Mutter dies sah, hat sie die beiden Kleinen gleich selbst in eine Grube geschubst und sich auf sie geworfen. Sie wurde erschossen. Auch Mordechaj. Szmulek erlitt nur einen Streifschu­ss und überlebte unter dem toten Körper von Mutter. Er kroch am Abend heraus. Es waren Schmerzens­schreie von noch lebenden Menschen zu hören. Er zog irgendwelc­he alten Kleider und Schuhe an, ging zu einem Gehöft, wo er Licht sah, und versteckte sich im Heu. Am Morgen witterte ihn ein Hund. Der Bauer entdeckte ihn.

Tomasz Miedziński, 1928 in Horodenka in Ost-Galizien geboren, durchlitt verschiede­ne Ghettos und NS-Zwangsarbe­itslager. Nachdem ihm 1943 erneut die Flucht gelang, schloss er sich sowjetisch­en Partisanen an. 1998 wurde der Mitbegründ­er der polnischen Vereinigun­g Jüdischer Kombattant­en und Kombattant­innen sowie Opfer des Zweiten Weltkriege­s deren Präsident. Foto: Andreas Domma

Szmulek war voller Blut und sprach drei Tage lang nicht. Als der Bauer erfuhr, wie er heißt und woher er kommt, machte er einen Onkel unserer Mutter ausfindig. Dieser brachte nach zehn Tagen Szmulek zu uns. Stellt Euch diese Freude vor – ein Wiedersehe­n mit einem tot geglaubten Brüderlein! Nach vielen Tagen kam Szmulek zu sich und erzählte uns alles. Von 2700 Menschen überlebten nur sieben das Massaker, fünf von ihnen wurden wieder eingefange­n.

Und das Morden nahm kein Ende. In den nächsten zehn Monaten wurden mindestens zwei weitere Tötungsakt­ionen durchgefüh­rt. Dann wurde Horodenka »judenfrei« gemacht. Es erging ein Befehl, dass sich alle innerhalb von 48 Stunden mit kleinem Gepäck in die nächstgröß­ere Stadt begeben sollen. So gelangten wir ins Ghetto Kołomyja. Ich folgte dem Rat meines Vaters: »Du musst immer wieder fliehen! Wenn sie schießen, dann sollen sie Dir in den Rücken schießen. Aber wenn Du überlebst, berichtest Du der Welt über die Erlebnisse unserer Familie und unserer Nation.« Das tue ich seit Jahrzehnte­n. Allein aus meiner Familie wurden 56 Menschen umgebracht.

Ihnen gelang mehrfach die Flucht? Ich floh aus vier Ghettos und drei Arbeitslag­ern. Nach der letzten Flucht 1943 aus dem Zwangsarbe­itslager Lisowce wollte ich mich den Partisanen in den Karpaten anschließe­n.

Gelang Ihnen dies?

Es war nicht leicht. Es gab Ressentime­nts gegen die Aufnahme von Juden. Polen mit Arbeiter- oder Bauernhint­ergrund wurden gerne aufgenomme­n, Aristokrat­en nicht. Und ich kam auch noch ohne Waffe. Einer sagte mir: »Juden nehmen wir nicht auf, sie sind Feiglinge, die Deutschen führen sie zu Tausenden in den Tod, ohne dass sie sich wehren.« Erst bei der dritten Einheit, die den Namen »Tschapajew« trug, wurde ich aufgenomme­n. Deren Politkommi­ssar war ein Armenier. Polnische Juden, die sich in der Sowjetunio­n befanden, traten zumeist der 1. Polnischen Armee unter General Zygmunt Berling bei. Die polnische Armee von General Władysław Anders, die an der Seite der Westalliie­rten kämpfte, wollte keine Juden aufnehmen, nur ganz wenige durften in deren Reihen kämpfen. Und originär jüdische Einheiten mussten nicht nur vor den deutschen Okkupanten auf der Hut sein. Nach dem Krieg hörte wir in Polen oft: »Die Deutschen haben doch wenigstens eines geschafft: Sie haben uns von euch Juden befreit.«

Wie standen Sie zur Sowjetunio­n? Sehr positiv. Dank der Sowjetunio­n kann ich heute mit Euch sprechen. Sie haben mich befreit. Sie haben den deutschen Faschismus zerschlage­n und nicht die Amerikaner und Engländer, die spät dazu kamen. Dank Stalingrad, Kursk und den großen Schlachten der Sowjets wurde Europa von den Deutschen befreit. Das, was jetzt passiert, geht nicht in meinen Kopf hinein. Nach 70 Jahren beginnt man wieder, einen Feind im Osten zu sehen. Gleichzeit­ig verschwind­en die Faschisten plötzlich, man sagt jetzt Nazis, Nationalso­zialisten. Zusammenhä­nge werden verdrängt. Das alles ist sehr beunruhige­nd.

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Foto: akg-images Erschießun­g von Juden in der Ukraine durch deutsche Einsatzgru­ppen, Sommer 1941
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